Als er die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen;
denn sie waren müde und erschöpft wie Schafe,
die keinen Hirten haben.
Liebe Schwestern und Brüder,
erst gestern kam in Medien die Nachricht, dass die Zahl der Kirchenaustritte 2018 wieder gestiegen ist. Die beiden großen Kirchen in Deutschland haben im Jahr 2018 weiter Mitglieder verloren. Die Zahl der Protestanten ging um etwa 395.000 zurück, die Zahl der Katholiken sank um knapp 309.000. Diese Zahlen bestärken diejenigen, die nur einen passenden Moment suchen, um die Kirche zu kritisieren, um darüber zu schreien, wie „schlecht“ alles in der Kirche ist, wie falsch alles läuft und was noch „menschlicher“ in der Kirche gemacht werden muss und wie man noch säkularer die Gesellschaft gestalten muss… Andererseits sehen wir solche Schritte der Kirchenleitung, wie Verkauf von Kirchen, Streichung von Pfarrstellen, die gewiss keinem, der Entscheidungstreffer leichtfallen. Diese seien aber notwendig, wenn man die oben genannten Zahlen analysiert und die daraus folgenden düsteren Prognosen berücksichtigt. Notwendig sind diese Schritte, um wirtschaftlich auf der sicheren Seite zu stehen, sagt man. Und viele bejahen diese Entscheidungen schweren Herzens. Ist es aber tatsächlich der Ausweg, den wir als gläubige Christen, ich betone als gläubige Christen, gehen sollten?
„Als er die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen; denn sie waren müde und erschöpft wie Schafe, die keinen Hirten haben.“ – lesen wir im heutigen Evangelium (Mt. 9, 36). Diese Worte Christi, gesprochen vor mehr als 2000 Jahren, gelten heute genauso wie damals. Hoffnungslosigkeit hat sich breitgemacht. „Müde“ sind wir alle geworden und „erschöpft“, weil wir keinen Halt mehr in unserem Alltag finden, weil wir uns selbst von unseren Wurzeln „befreien“, da sie, so denken wir, zu alt, zu rückständig, zu schwer, zu uncool, sind. Wir sind „müde“, wir sind „erschöpft“, weil wir auf der Suche nach dem Glück sind, doch die materialistischen und hedonistischen Lebenskonzepte der Moderne den Menschen ein schönes, glückliches und sorgloses Leben zwar versprechen, ihn aber in ein „Wunderland“ entführen, das nur scheinbar ein solches ist und wo die Befriedigung der eigenen Wünsche, das Glück, nur vom kurzen Dauer ist. Und es gibt leider so wenig von den Arbeitern, die der Herr meint, die den Ausweg verkünden und zwar nicht nach dem Motto „Vox populi vox Dei“ (wörtlich: ‚Volkes Stimme [ist] Gottes Stimme‘), sondern die bemüht sind die Gottes Stimme, die wir durch die göttliche Offenbarung in Schrift und Tradition erhalten haben, zu den Menschen zu bringen.
Wenn wir an den gleichen barmherzigen und menschenliebenden Gott glauben, der gestern und heute der Gleiche ist, der sich nicht ändert in seiner absoluten Liebe, wieso zweifeln wir heute, dass dieser Gott auch heute der Ausweg ist und dass er dafür sorgen wird, dass die Ernte gesammelt wird? Wir glauben an Wirtschaftsläute und an Statistiken, möchten aber nicht an Gott glauben. Irgendetwas, irgendeine Kraft, macht uns hoffnungslos und leitet unsere Gedanken in die Richtung, dass wir Kirchen schließen müssen, Pfarrstellen streichen müssen, dass wir weniger werden etc. Wir wissen was für eine Kraft das ist. Ganz bestimmt nicht die Göttliche! Denn Sie würde uns in unserem Glauben stärken und uns zum Gebet führen, welches uns stärkt und Kraft zum richtigen Handeln schenkt.
„Die Ernte ist groß, aber es gibt nur wenig Arbeiter.“ (Mt. 9, 37) sagt Christus zu seinen Jungern. Was sollen die tun? Felder verkaufen, Arbeiter entlassen? Oder gibt es einen anderen Weg, den Jesus Christus uns vorschlägt? Gleich nach diesem Satz sagt er: „Bittet also den Herrn der Ernte, Arbeiter für seine Ernte auszusenden!“ (Mt. 9, 38). Er zeigt den Ausweg. Seine Worte und Sein Handeln sollte die Kirche ernst nehmen. Seine Beispiele sollte die Kirche folgen. Der Glaube der Kirche an Gott muss stärker sein als an Vorhersagen der Wirtschaftsleute. Die Kirche soll keine Angst für ihre Zukunft haben, wenn ihre Hoffnung Jesus Christus ist. Sie soll Zeichen setzen und Beispiel sein für ihre Mitglieder. Die Kirche kann und muss dem hedonistischen Lebenskonzept auf dieser Welt auch trotzen können, sich davon befreien können und ihren Glück nicht hier auf die Erde zu suchen, sondern im Schau Gottes, in der vom Gott gewollten Vereinung zwischen Mensch und Gott, im Theosis. Der gläubige Christ soll frei sein von dem Druck der Moderne und soll lernen zu wählen, ob er den Weg des kurzen Glücks in einer Scheinwelt gehen will oder doch lieber den manchmal steinigen, engen, schwierigen Weg, der aber zu Christus führt, wählt. Dabei und dazu muss die Kirche den Menschen begleiten. Das ist ihre wichtigste Aufgabe! Sie darf kein Beispiel der Hoffnungslosigkeit und Resignation sein, sondern soll Zeichen setzen und von den Fehlern der Vergangenheit lernen.
Das Leben eines Christen, der entscheidet sich restlos dem Leben mit Gott zu widmen, kann ein ziemlich einsames und von anderen missverstandenes Leben sein. Ich kann von mir sagen, das mein Dienst als Pfarrer sehr schön hart sein kann, manchmal zutiefst frustrierend. So stark, dass ich mich auf dem Boden zertrümmert fühle. Tag und Nach im Gebet und im Dienst für die Gemeinde, die, so denken ich manchmal, wenn ich die Besucherzahl der Gottesidenst anschaue, mich und mein Dienst gar nicht braucht. Die Menschen, zu denen ich gesandt bin, brauchen mich einfach nicht, denke ich… Denn ich fahre hunderte Kilometer, lasse meine Familie alleine, gehe, um den Menschen beistand zu geben, für sie und mit ihnen zu beten, ob beim Gottesdienst, ob bei Taufe, Trauung, Beerdigung… und werde oft so angesehen, als ob ich ein Aliens wäre, der von irgendwo her gekommen ist, um irgendwas zu machen, was keiner versteht, was aber unbedingt noch gemacht werden soll, weil Oma das so gesagt hat… Zum Schluss gibt es oft, im besten Fall, ein kleines Händeschütteln mit einem „Danke“. Meistens vergessen diese Menschen mich, sobald ich meine „magischen“ Handlungen abgeschlossen habe…
Klar, ich erzähle hier von den Extremen. Selbstverständlich gibt es auch viele Gläubige, die tatsächlich sehr dankbar sind. Gerade solche sind es, die mir Kraft geben und beflügeln. Aber sehr oft stelle ich mich auch die Frage: „Wer braucht dich noch, Herr Pfarrer?“
Die Idee, dass man keinen Mittler zwischen Gott und Mensch braucht, wurde vom Westen verbreitet und zwar so gut, dass heute auch armenisch apostolische Christen, ohne lange zu überlegen, entscheiden für sich, dass sie alles selber können und sie keinen Pfarrer brauchen, der ständig mit seinen konservativen Ideen kommt. Sie brauchen, so denken diese Menschen, auch keine Kirche, die das Leben des Menschen „unnötig“ erschwert, der Glaube wird etwas sehr persönliches, was man nicht mehr mit anderen teilen will…
Unüberlegt, denn dieser Weg ist kein Ausweg. Denn genauso können wir fragen: Warum brauchen die Kinder ihre Eltern? Warum brauchen die Schüler Lehrer? Warum brauchen die Kranken Ärzte? Warum? Weil es ohne diese Mittler etwas schiefgehen kann. Meinen Sie nicht?
Missverstanden zu sein wegen des Glaubens an einen Gott, der ziemlich oft merkwürdiges Handeln verlangt, ist nicht etwas, was nur ich erleben muss. Solche Beispiele haben wir zahlreich in der Kirche, sowohl das Alte Testament als auch das Neue Testament, aber auch die Kirchengeschichte berichtet von Menschen, die nicht Menschen, sondern Gott vertrauen. Und „was für ein Vertrauen“! (2. Könige 18,19) Restlos! Unverständlich für andere! Vertrauen, welches nur möglich ist, wenn man in einer engen Beziehung mit Gott lebt.
Schauen wir auf den Heiligen Noah, als er die Anweisung bekommt die Arche zu bauen. Schauen wir auf den Hl. Patriarchen Abraham, der die Stimme Gottes hört es soll seinen Sohn, den er liebt, den Isaak, als Opfer darbringen. Schauen wir auf die Propheten oder auf den Johannes den Täufer, auf die Hl. Gottesgebärerin Maria und auf das Leben vieler Heiligen der Kirche, die gestern und heute wegen Ihres Glaubens das Martyrium erleiden müssten. Von diesen Beispielen sollten wir lernen. Haben all diese Menschen keine Fehler gemacht in ihrem Leben? Haben die nicht gesündigt? Doch. Das haben Sie. Aber sie haben auch zum richtigen Zeitpunkt verstanden, dass sie sich von ihren Sünden befreien müssen und ihr Leben mit Gott verbinden, auf Ihn vertrauen, denn Er ist der Ausweg, Er ist der Weg in die Ewigkeit.
Auf diesem Weg sind wir nicht allein! Die gesamte Kirche, die Gemeinschaft der gläubigen Christen, ist unterwegs. Sie wurde von unserem Herrn Jesus Christus in die Welt hineingeschickt damit das Evangelium verkündet wird. Damit das Volk, welches müde und erschöpft ist das Wort Gottes hört, die Gute Nachricht, das Evangelium hört. Vor allem waren es die heiligen Apostel, die den Auftrag bekommen haben: „geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Macht Kranke gesund, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus“ (Mt. 10, 7). Sie bekommen einen Auftrag vom Herrn. Gleichzeitig werden Sie belehrt diesen Auftrag in Dankbarkeit aufzunehmen und es in voller Verantwortung umzusetzen. Im Johannesevangelium lesen wir: „Ich habe euch gesandt zu ernten, wofür ihr euch nicht abgemüht habt; andere haben sich abgemüht und euch ist ihre Mühe zugutegekommen“ (Jh. 4, 38). Was heißt es für uns heute? Die Apostel haben Bischöfe, Priester und Diakone geweiht und ihnen durch den Heiligen Geist die macht gegeben den gleichen Auftrag weiterzuführen. Von damals bis heute, und bis in die Ewigkeit, hat die Kirche durch ihre Leitung, durch ihre Geistlichen aber auch durch ihre Gläubigen den Auftrag das Evangelium in der Welt zu predigen und dabei in großer Verantwortung zu handeln, mit einem Respekt vor der Arbeit all derer, die vor ihnen „sich abgemüht“ haben und deren Mühe ihnen zugutegekommen ist. Dabei soll sie, die Kirche, keine Angst haben, denn der gleiche Herr, der diesen Auftrag gibt, sagt: „ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mt. 28, 20).
Die Kirche soll also keine Angst haben das Wort Gottes zu erfüllen! Die Kirche darf nicht Hoffnungslos sein! Die Kirche soll heute wie gestern Zeichen setzen! Ja, sie soll auch von ihren Fehlern lernen und sich davon befreien. Sie soll nicht menschlicher werden, sondern den Menschen zu Gott führen. Sie soll nicht Gott vom Himmel auf die Erde bringen, denn er ist selbst herabgestiegen und ist Mensch geworden, uns gleich in allem, außer in der Sünde. Aber er ist herabgestiegen, damit alle, die an Ihn glauben, wieder Zugang zum Himmelreich erhalten. Die Kirche muss also den Menschen vom irdischen zum himmlischen begleiten.
Klar, es wird bestimmt Menschen geben, die sagen würden: wir brauchen keine Kirchen und keine Pfarrer. Wir können alles auch alleine. Na dann, wenn die es können, dann nichts wie los, sie sollen es mal versuchen. Wir wissen aber, dass sie ganz schnell sehen werden, wie schwer es ist. Denkst solche Menschen wirklich, dass das geistliche Leben viel einfacher und leichter ist als Mathe oder Physik? Ich muss die enttäuschen. Im geistlichen Leben brauchen wir Lehrer und Begleiter. Menschen die von anderen dieses Wissen bekommen haben und es uns weitergeben. Wir brauchen geistliche Eltern, die für uns sorgen und uns begleiten, die den Glauben und das Wissen der Kirche von der apostolischen Zeit bis heute lebendig halten und uns zur Verfügung stellen.
Das Leben eines Gläubigen, liebe Schwestern und Brüder, ist oft ein hartes Leben, voller Dorne und Schmerzen. Diesen Weg zu gehen kann er nicht, wenn er nicht voll mit lebendiger Glauben ist, Glauben an den dreieinen Gott, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist. Er kann es nicht, wenn er nicht bereit ist mit Christus zu leiden und den Christus nachzuahmen in allem, auch im Gebet am Kreuz… Nicht Böse zu sein, sondern zu beten. Vor allem für diejenigen zu beten, die ihn beleidigen, die bewusst oder unbewusst Fehler machen, die sündigen.
Wir sollten vielleicht öfters bewusstmachen, dass der barmherzige Gott, genauso wie vor 2000 Jahren die Menschen von heute sieht und Mitleid mit denen hat, denn sie sind „müde und erschöpft“ weil sie nicht mehr weiterwissen. Gerade zu solchen Menschen soll die Kirche hingehen, und ihren Auftrag erfüllen: das Evangelium vom Reich Gottes zu verkünden und alle Krankheiten und Leiden im Namen Christi heilen. Heute vor allem die Krankheit der Hoffnungslosigkeit und des Egoismus. Sie soll mehr über Gemeinschaft mit Gott sprechen, die erst durch das menschliche Miteinander möglich ist. Sie soll mehr über lebendige Verantwortung predigen, die der Mensch zunächst in der Familie lernt. Zunächst als Kind, später als Eltern, die je mehr Kinder von Gott erbitten und bekommen, desto besser in dieser Verantwortung hineinwachsen. Sie soll vor allem aber ihre Schäflein nicht ohne Hirten lassen. Die Kirche ist aber nicht nur die Leitung. Nicht nur das Herz der Mensch, sondern die gesamtheit des Organismus. Deshalb ist es auch Aufgabe aller Gläubigen den Auftrag Gottes zu hören, der uns heute sagt: „Bittet also den Herrn der Ernte, Arbeiter für seine Ernte auszusenden!“ (Mt. 9, 38). Beten Sie, liebe Schwestern und Brüder für die Kirche Jesu Christi und für die Geistlichen seiner Kirche. Auch wenn wir manchmal weniger sind, als wir es uns wünschen würden, wergessen wir nicht, dass wo zwei oder drei sind, die im Namen Christi zusammenkommen sind und ihre enge Verbindung zu Kirche, Tradition und Glauben zum Ausdruck bringen, dort ist Jesus Christus mitten unter ihnen.
Beten Sie, liebe Schwestern und Brüder für eure Geistlichen. Er, der barmherzige und lebendigmachende Gott, möge uns Kraft und Weisheit schenken, damit wir seine Schäflein, die uns anvertraut sind ans Ziel begleiten können… Haben Sie Mut als Christen zu leben, in vollem restlosem Vertrauen auf den dreieinen Gott, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist und möge sein Segen uns alle stärken in unserem Glauben, auf das dieser Glaube Früchte trägt, so wie der Wille Gottes ist. Amen.
Pfr. Dr. Diradur Sardaryan
Gesprochen beim Ökumenischen Gottesdienst
in der Lutherkirche Bad Cannstatt