„Erzähl mir vom Frieden“ – Überlegungen zur Gewaltfreiheit
Die Perspektive im Lichte der Theologie der Armenischen Kirche und geopolitischer Realitäten
Ein Beitrag zur Ökumenischen Friedensdekade
von Pfr. Dr. Diradur Sardaryan
Unter dem Motto „Erzähl mir vom Frieden“ begehen wir vom 10. bis 20. November die diesjährige Ökumenische FriedensDekade. In dieser Zeit sind Kirchen aufgerufen, gemeinsam für den Frieden zu beten. In unserer Gemeinde haben wir die Dekade mit einem Friedensgebet eröffnet. Dabei ist es unser Anliegen, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf das Schicksal der vertriebenen Armenier und der in aserbaidschanischen Gefängnissen inhaftierten Gefangenen zu lenken. Die Situation Armeniens zeigt heute – wie selten zuvor – die Herausforderungen, die eine gewaltfreie Haltung inmitten einer angespannten geopolitischen Lage mit sich bringt. Für Armenien lautet die zentrale Frage: Wie kann ein Volk, das bedroht ist, Frieden schaffen und zugleich seine Würde und Existenz bewahren?
Friedensethik in Bedrängnis
Für Armenien ist Frieden keine abstrakte Idee, sondern eine existenzielle Notwendigkeit. Die Armenische Kirche betrachtet Frieden als göttliches Geschenk und sieht sich zugleich in der Verantwortung, die Schwachen zu schützen. Diese Pflicht, Frieden zu fördern und gleichzeitig die Not der Bedrängten nicht zu vergessen, hat Armenien tief geprägt. Das Land lebt in der Spannung zwischen Friedfertigkeit und der Realität ständiger Bedrohung und zeigt so, dass Frieden und Selbstschutz oft eng miteinander verknüpft sind.
Armeniens Geschichte und kulturelle Identität sind stark in der Bewahrung von Ehre und Würde verwurzelt. Diese Werte zu wahren, ist eine Herausforderung, vor allem wenn Nachbarstaaten weiterhin unverhohlen von der Auslöschung und Verdrängung der Armenier träumen und diesen Traum in die Tat umsetzen. Wie der orthodoxe Theologe Stanley Samuel Harakas betont, bedeutet aber christliche Ethik keineswegs Schwäche. Sie ist vielmehr Ausdruck von Authentizität und Festigkeit. Die Friedfertigkeit Armeniens spiegelt in diesem Sinne einen Widerstand, der sich nicht beugt, sondern die Würde bewahrt und als Zeichen der Standhaftigkeit erscheint.
Gewaltverzicht als spirituelle Stärke – und die Frage der Verteidigung
Die Theologie der Kenosis, der Selbstentäußerung Christi, weist auf eine Form von Stärke, die auf innerer Überzeugung gründet, nicht auf äußerer Macht. Gewaltverzicht ist hier eine Entscheidung, die sich aus einer tiefen, geistlichen Kraft speist und den Frieden über den Kampf stellt. Armenien hält an diesem Prinzip fest und gewinnt daraus eine Stärke, die über militärische Mittel hinausgeht. Diese Haltung, wie sie auch Mahatma Gandhi und Martin Luther King lebten, zeigt, dass Frieden nicht bloßer Verzicht auf Gewalt ist, sondern die Wahl, die Konflikte durch Transformation zu überwinden.
Doch so wertvoll dieser Friedenswille auch ist, die Frage nach dem Schutz der eigenen Existenz und Würde bleibt drängend. Armenien hat sich über Jahrhunderte gegen Bedrohungen behaupten müssen. Die Geschichte des Landes zeigt: Frieden ist für Armenien nicht einfach ein Zustand, sondern ein Weg, der hart erkämpft werden muss. Er verlangt, dass die Balance zwischen Friedfertigkeit und Selbstschutz immer wieder neu gefunden wird.
Eingekreist von Staaten wie Türkei und Aserbaidschan, die ihre Feindseligkeit offen zeigen, und abhängig von der Unterstützung des Iran und Russlands, befindet sich Armenien in einem komplizierten Spannungsfeld. Während der Iran Armenien aktuell gewogen ist, zeigen sich die Türkei und Aserbaidschan unversöhnlich, und Russland, einst Schutzmacht, behandelt Armenien zunehmend als Verhandlungsobjekt in geopolitischen Strategien. In diesem Umfeld wird der Gewaltverzicht zu einer Herausforderung, die innere Stärke erfordert und zugleich die Frage nach der Verteidigungsfähigkeit aufwirft.
Die schwierige Balance zwischen Anpassung und Unterwerfung
Ein kleines Land wie Armenien muss in diesem Spannungsfeld oft zwischen Anpassung und Standhaftigkeit abwägen. Doch wann wird Anpassung, die dem Überleben dient, zur Unterwerfung, die das Land seiner Identität beraubt? Die politische Realität verlangt häufig Kompromisse. Doch ist es leicht, in der Anpassung die eigene Souveränität zu verlieren, bis Unterwerfung als Normalität erscheint.
Vaclav Havel hat betont, dass die Macht der Mächtigen aus der Ohnmacht der Schwachen erwächst. Armenien darf daher seine Abhängigkeit von mächtigen Nationen nicht als gegeben hinnehmen. In einer solchen Umgebung besteht die Aufgabe nicht nur darin, die äußere Unabhängigkeit zu sichern, sondern auch die innere Freiheit und das eigene Bewusstsein zu bewahren.
Die Herausforderung der Versöhnung
In Armenien ist Versöhnung mehr als ein friedlicher Wunsch. Sie ist ein bewusster Weg, auf dem trotz tiefer Wunden und wiederholter Aggressionen Schritte zur Heilung unternommen werden. Die Frage stellt sich jedoch: Kann Versöhnung wirklich Bestand haben, wenn sie einseitig ist? Ein wahrer Friede darf nicht auf dem Vergessen der Opfer gründen. Er erfordert die Anerkennung des Unrechts, das geschehen ist, und kann nur dann Bestand haben, wenn aufrichtige Schritte zur Gerechtigkeit unternommen werden.
Die internationale Gemeinschaft, die oft von Frieden spricht, muss sich fragen, ob sie Armeniens Wunsch nach Versöhnung nur in Worten unterstützt oder auch bereit ist, in Taten Verantwortung zu übernehmen.
Ein Mahnmal für die Weltgemeinschaft
Die Entscheidung Armeniens für den Frieden ist ein klarer Appell an die Weltgemeinschaft, diesen Weg aktiv zu unterstützen. Es bedarf mehr als Resolutionen oder Erklärungen, um sicherzustellen, dass bedrohte Nationen wie Armenien vor den Übergriffen stärkerer Nachbarn geschützt sind. Nur durch eine tatkräftige Unterstützung der Schwächeren und die klare Durchsetzung von Gerechtigkeit kann echter Frieden wachsen. Die internationalen Institutionen und Mächte sind gefordert, Verantwortung zu übernehmen, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen und so einen dauerhaften Frieden zu ermöglichen.
Armenien zeigt auf, dass Frieden weit mehr ist als der Verzicht auf Gewalt. Er muss auf Gerechtigkeit und moralischen Prinzipien gründen. Armeniens Appell an die Welt ist daher kein bloßer Ruf nach Frieden, sondern eine Einladung, ernsthaft an der Sicherung von Gerechtigkeit mitzuwirken und so einen Beitrag zu leisten, der den Frieden wirklich fördert.
Der zentrale Gottesdienst
zum Abschluss der Ökumenischen Friedendekade 2024
findet am Mittwoch 20.11. (Buß- und Bettag) um 19 Uhr
im Gospel House in Baden-Baden statt.
Die Predigt wird Pastor Dr. Joel Driedger halten.