Einsamkeit:

Die stille Last der Moderne

Ein Beitrag zur Großen Fastenzeit 2025
von Pfr. Dr. Diradur Sardaryan
Gemeindepfarrer

Die Abenddämmerung senkt sich über die Stadt. In zahllosen Fenstern flackert das bläuliche Licht von Bildschirmen. Menschen sitzen vor Computern und Smartphones, verbunden mit der ganzen Welt und doch allein. In einem dieser Fenster sitzt eine ältere Frau, deren Kinder ins Ausland gezogen sind. In einem anderen ein junger Mann, neu in der Stadt, umgeben von virtuellen Freunden, aber ohne jemanden, der ihn zum Kaffee treffen würde. Im Erdgeschoss ein Teenager, der in sozialen Medien Hunderte von Kontakten pflegt und sich dennoch unverstanden fühlt.

Einsamkeit – die stille Epidemie unserer Zeit. Sie breitet sich unaufhaltsam aus, während wir paradoxerweise technisch stärker vernetzt sind als je zuvor. In Deutschland fühlen sich etwa 15% der Menschen regelmäßig einsam, bei jungen Erwachsenen und Senioren liegt die Zahl noch höher. Die Folgen für die körperliche und seelische Gesundheit sind gravierend: Chronische Einsamkeit erhöht das Risiko für Herzerkrankungen, Schlaganfälle, Depressionen und verkürzt die Lebenserwartung in ähnlichem Maße wie Rauchen oder Fettleibigkeit.

Die verborgene Wunde: Einsamkeit verstehen

Einsamkeit ist mehr als nur Alleinsein. Man kann inmitten einer Menschenmenge einsam sein und allein in der Stille tiefe Verbundenheit erfahren. Der wesentliche Unterschied liegt in der subjektiven Wahrnehmung: Einsamkeit entsteht, wenn wir eine schmerzhafte Diskrepanz zwischen unseren Bedürfnissen nach Verbundenheit und unseren tatsächlichen sozialen Beziehungen erleben.

Die moderne Psychologie unterscheidet verschiedene Dimensionen der Einsamkeit:

Die soziale Einsamkeit beschreibt das Fehlen eines unterstützenden sozialen Netzes – Freunde, Bekannte, Kollegen, mit denen wir Erfahrungen und Interessen teilen können. Die emotionale Einsamkeit hingegen bezeichnet das Fehlen tiefer, vertrauter Bindungen, in denen wir uns wirklich gesehen und verstanden fühlen. Besonders schmerzlich ist die existenzielle Einsamkeit – das Gefühl, von Gott und der Welt verlassen zu sein, ohne Sinn und Halt im Leben.

In der armenisch-apostolischen Tradition findet sich ein tiefes Verständnis für diese verschiedenen Dimensionen. In den Schriften des Kirchenvaters Gregor von Narek (951-1003), besonders in seinem „Buch der Klagen“, wird die menschliche Einsamkeit in ihren verschiedenen Facetten eindringlich beschrieben – als Trennung von der Gemeinschaft, als innere Leere und letztlich als Entfremdung von Gott. Diese Entfremdung wird verstanden als eine Folge der Sünde, die den Menschen von seinem Schöpfer, von seinen Mitmenschen und letztlich von sich selbst trennt. Doch wo finden wir den Ausweg aus dieser Einsamkeit?


Moderne Ursachen einer uralten Wunde

Obwohl Einsamkeit eine zeitlose menschliche Erfahrung ist, haben sich in der modernen Gesellschaft bestimmte Faktoren verstärkt, die zu ihrer Ausbreitung beitragen:

Die zunehmende Mobilität unserer Gesellschaft lässt traditionelle Gemeinschaften erodieren. Familien leben über Kontinente verstreut, berufliche Mobilität führt zu häufigen Umzügen. Dies betrifft besonders stark Diasporagemeinden wie die armenische Gemeinschaft in Deutschland, wo die Zerstreuung nicht nur geografisch, sondern oft auch kulturell und sprachlich erlebt wird.

Die Digitalisierung hat unsere Kommunikation grundlegend verändert. Soziale Medien vermitteln oft eine Illusion von Verbundenheit, während tiefere Beziehungen auf der Strecke bleiben. Studien zeigen, dass intensive Nutzung sozialer Medien paradoxerweise das Gefühl der Einsamkeit verstärken kann, besonders bei jungen Menschen.

Der Individualismus als kultureller Wert betont Selbstverwirklichung und Unabhängigkeit, oft auf Kosten von Gemeinschaft und Verbindlichkeit. Die Vorstellung, dass jeder seines Glückes Schmied sei, kann in Krisenzeiten zu Isolation führen. Dies steht in spannendem Kontrast zur armenisch-apostolischen Tradition, die den Menschen wesentlich als Gemeinschaftswesen begreift, dessen Identität sich in Beziehung zu Gott und Mitmensch entfaltet.

Demographische Veränderungen wie sinkende Geburtenraten, höhere Lebenserwartung und steigende Zahlen von Einpersonenhaushalten verändern die soziale Landschaft. In Deutschland leben bereits 41% aller Haushalte als Singlehaushalte – ein historischer Höchststand mit weiter steigender Tendenz.

Besonders die Corona-Pandemie hat das Bewusstsein für die Einsamkeitsproblematik geschärft. Die notwendigen Kontaktbeschränkungen haben nicht nur vorübergehende Isolation verursacht, sondern bei vielen Menschen bleibende Veränderungen im Sozialverhalten hinterlassen – von gesteigerter Ängstlichkeit in sozialen Situationen bis hin zu dauerhaftem Rückzug.


Das Heilmittel der Gemeinschaft

Das Christentum, in ihrer östlichen Ausprägung, bietet eine tiefgründige Antwort auf die Herausforderung der Einsamkeit, die in der Trinität selbst verwurzelt ist. Der dreieinige Gott verkörpert in sich vollkommene Gemeinschaft – Vater, Sohn und Heiliger Geist in untrennbarer Einheit und dennoch in personaler Unterschiedenheit. Diese göttliche Gemeinschaft ist das Urbild menschlicher Gemeinschaft.

Der Mensch als Ebenbild Gottes ist auf Gemeinschaft hin erschaffen. Die Anthropologie unserer Kirche betont, dass wir unser volles Menschsein nur in Beziehung verwirklichen – zu Gott, zu anderen Menschen und zur Schöpfung. Einsamkeit in diesem Sinne ist nicht einfach ein psychologisches Problem, sondern ein Zustand, der unserem tiefsten Wesen widerspricht. Sogar die christlichen Emeriten, die ihr Leben in scheinbarer Einsamkeit führen, folgen den Ziel der Gemeinschaft mit Gott und mit der Kirche Christi.

Die Kirche wird in der orthodoxen Tradition als Leib Christi verstanden, in dem alle Glieder miteinander verbunden sind. Der heilige Nerses Schnorhali (1102-1173), ein bedeutender armenischer Theologe, beschreibt dies als eine Gemeinschaft, die über bloße soziale Verbindungen hinausgeht und eine geistliche Dimension hat, die in der Eucharistie ihre tiefste Verwirklichung findet.

Die Liturgie als „gemeinsames Werk“ (leiturgia) ist der Herzschlag dieser Gemeinschaft. In ihr kommen alle Dimensionen des Menschseins zusammen – Körper, Geist und Seele. Die orthodoxe Liturgie spricht alle Sinne an und schafft eine ganzheitliche Erfahrung der Gemeinschaft mit Gott und miteinander. Gerade in der Diaspora wird die Liturgie zum zentralen Ort, an dem kulturelle und geistliche Identität bewahrt und weitergegeben wird.


Ein Weg aus der Isolation

Die Große Fastenzeit ist nicht primär eine Zeit individueller Buße, sondern eine gemeinsame Reise der Kirche. Diese Perspektive bietet einen wertvollen Gegenentwurf zur Individualisierung in der modernen Gesellschaft. Während unsere Kultur oft suggeriert, dass Selbstverwirklichung im Mittelpunkt stehen sollte, erinnert die Fastenzeit daran, dass wahre Erfüllung in der Hinwendung zu Gott und zum Nächsten liegt.

Die liturgischen Besonderheiten der Fastenzeit in der armenischen Tradition schaffen verstärkte Gelegenheiten zur Gemeinschaft. Zusätzliche Gottesdienste, gemeinsames Bibelstudium und die Vorstellung vereint zu sein mit allen Fastenden bieten Begegnungsräume jenseits oberflächlicher Kontakte. Die gemeinsamen Mahlzeiten nach den Gottesdiensten stärken den Zusammenhalt der Gemeinde.

Eine besondere Bedeutung kommt dem armenischen Ritual des Votnlva (Fußwaschung) am Gründonnerstag zu. Diese liturgische Handlung, bei der in Erinnerung an Christus der oberste Geistliche in der Gemeinde die Füße der kleinsten Gemeindemitglieder wäscht, symbolisiert den dienenden Aspekt der Gemeinschaft. Sie erinnert uns daran, dass wahre Gemeinschaft über bloße gesellige Zusammenkünfte hinausgeht und konkreten Dienst am Nächsten einschließt.

Die Beichte als Sakrament der Versöhnung erhält in der Fastenzeit besonderes Gewicht. Sie stellt nicht nur die Beziehung zu Gott wieder her, sondern öffnet auch den Weg zur Heilung zwischenmenschlicher Beziehungen. In unserer Tradition wird die Beichte sowohl individuell als auch in Form gemeinsamer Sündenbekenntnis praktiziert, was das Bewusstsein stärkt, dass wir in unserer Unvollkommenheit nicht allein sind.


Praktische Wege aus der Einsamkeit:
Gemeinde als Antwort

Die christliche Gemeinde kann ein kraftvolles Gegengewicht zur wachsenden Einsamkeit sein. Dies geschieht nicht automatisch, sondern erfordert bewusste Gestaltung des Gemeindelebens. Einige Ansätze haben sich als besonders wirksam erwiesen:

Die Integration Neuankommender ist eine zentrale Aufgabe, besonders in einer Diasporagemeinde. Willkommensteams, die gezielt auf neue Gesichter zugehen, Patenschaften zwischen etablierten und neuen Gemeindemitgliedern und regelmäßige Kennenlernveranstaltungen können helfen, die ersten Hürden zu überwinden. Dabei sollte besonders auf Menschen geachtet werden, die neu im Land sind und mit sprachlichen und kulturellen Barrieren kämpfen.

Generationenübergreifende Angebote sind besonders wertvoll, da sie der Segregation nach Altersgruppen entgegenwirken. Projekte, bei denen Senioren ihr Wissen und ihre Erfahrungen an jüngere Generationen weitergeben – etwa durch das Lehren traditioneller armenischer Handwerkskunst, Sprache oder Küche – schaffen bedeutungsvolle Verbindungen. Gleichzeitig können jüngere Gemeindemitglieder Älteren bei Herausforderungen der digitalen Welt unterstützen.

Der Fokus auf authentische Begegnung bedeutet, Räume zu schaffen, in denen Menschen nicht nur nebeneinander existieren, sondern wirklich miteinander in Kontakt treten. Kleingruppen, die sich regelmäßig treffen, um über Glaubens- und Lebensfragen zu sprechen, ermöglichen tiefere Verbindungen als große Veranstaltungen. Das gemeinsame Studium der Schriften armenischer Kirchenväter kann dabei sowohl geistliche Tiefe als auch kulturelle Identität stärken.

Besonders wichtig ist die Begleitung in Lebenskrisen. Einsamkeit wird oft in Umbruchsituationen wie Umzug, Trennung, Krankheit oder Verlust eines Angehörigen besonders schmerzlich erlebt. Ein strukturiertes Besuchsdienstprogramm, das Menschen in solchen Situationen begleitet, kann entscheidend dazu beitragen, Isolation zu verhindern. Die traditionelle armenische Kultur mit ihrer starken Betonung familiärer Bindungen bietet hier wertvolle Ressourcen, die in der Diaspora bewusst gepflegt werden sollten.

Die Aktivierung zur Mitarbeit ist ein weiterer Schlüssel zur Überwindung von Einsamkeit. Menschen, die sich mit ihren Gaben einbringen können, erleben sich als wertvollen Teil der Gemeinschaft. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass auch weniger sichtbare Talente Wertschätzung erfahren und niemand aufgrund sprachlicher Barrieren oder kultureller Unterschiede von der Mitarbeit ausgeschlossen wird.


Geistliche Praktiken gegen die Einsamkeit

Die reiche geistliche Tradition der armenischen Kirche bietet zahlreiche Praktiken, die zur Überwindung von Einsamkeit beitragen können:

Das persönliche Gebet schafft eine Verbindung zu Gott, die auch in Zeiten äußerer Isolation Bestand hat. Die orthodoxe Tradition des Herzensgebets – der wiederholten Anrufung „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner“ – kann ein Anker in stürmischen Zeiten der Einsamkeit sein. Es erinnert uns daran, dass wir in Gottes Gegenwart nie wirklich allein sind.

Die Schaffung einer Gebetsecke im eigenen Zuhause mit Ikonen, Kerzen und religiösen Symbolen verbindet den persönlichen Raum mit der größeren Gemeinschaft der Kirche. In der armenischen Tradition spielt dabei oft ein Kreuzstein (Khachkar) eine besondere Rolle – ein mit komplexen Kreuzmustern verzierter Stein, der an die reiche kulturelle und geistliche Tradition Armeniens erinnert.

Die Verbindung zur weltweiten armenischen Gemeinschaft kann durch digitale Mittel gestärkt werden. Während soziale Medien allein die Einsamkeit nicht überwinden können, bieten Online-Andachten, Livestreams von Gottesdiensten aus bedeutenden armenischen Kirchen wie Etschmiadsin und virtuelle Pilgerreisen zu heiligen Stätten eine Möglichkeit, sich mit der größeren armenischen Gemeinschaft verbunden zu fühlen, besonders für diejenigen, die geografisch isoliert leben.

Die Tradition des Pilgerns hat in der armenischen Kirche eine lange Geschichte. Pilgerreisen zu bedeutenden Stätten – sei es innerhalb Deutschlands, nach Armenien oder zu anderen wichtigen Orten der orthodoxen Welt – können tiefe Gemeinschaftserfahrungen ermöglichen. In der Diaspora können auch kürzere „Mikro-Pilgerreisen“ zu nahegelegenen Orten spiritueller Bedeutung gemeinschaftsstiftend wirken.


Die doppelte Dimension:
Allein und verbunden sein

Die christliche Tradition kennt einen scheinbaren Widerspruch: Die tiefste Gemeinschaft wächst oft aus Zeiten bewusster Einsamkeit. Viele der Kirchenväter verbrachten der Überlieferung nach viele Jahre in Einsamkeit, bevor sie zur öffentlichen Wirkung übergingen. Diese Erfahrung steht symbolisch für eine wichtige Wahrheit: Es gibt einen Unterschied zwischen Einsamkeit als Leiden und Alleinsein als geistliche Praxis.

Die Fastenzeit lädt uns ein, diesen Unterschied zu erkunden. Sie bietet Raum für bewusste Stille und Zurückgezogenheit, nicht als Flucht vor anderen, sondern als Vorbereitung für tiefere Gemeinschaft. In der modernen Welt, in der wir ständig von Reizen überflutet werden, kann das bewusste Aushalten der Stille zu einer heilsamen Übung werden.

Diese Dialektik von Alleinsein und Verbundensein findet sich auch in der armenischen Liturgie. Momente intensiver gemeinschaftlicher Erfahrung wechseln sich ab mit Zeiten stiller persönlicher Kontemplation (vor allem der zelebrierende Priester hat mehrere persönliche Gebete in Stille). In diesem Rhythmus lernen wir, dass wahre Gemeinschaft nicht Selbstaufgabe bedeutet, sondern die Integration unserer einzigartigen Persönlichkeit in den Leib Christi.


Konkrete Schritte aus der Einsamkeit

Für Menschen, die unter Einsamkeit leiden, können folgende Schritte hilfreich sein:

Erkennen und Akzeptieren der Einsamkeit ist der erste Schritt. Viele Menschen verleugnen ihre Einsamkeit aus Scham oder versuchen, sie durch hektische Aktivität oder übermäßigen Medienkonsum zu betäuben. Das ehrliche Eingeständnis der eigenen Situation vor Gott und vor sich selbst öffnet den Weg zur Veränderung.

Kleine, regelmäßige soziale Kontakte sind oft wirkungsvoller als große, seltene Ereignisse. Der regelmäßige Besuch der Liturgie, auch wenn es anfangs schwerfällt, schafft Kontinuität und Zugehörigkeit. Das anschließende gemeinsame Mahl bietet niederschwellige Gelegenheiten zur Begegnung.

Die eigene Komfortzone zu verlassen und aktiv auf andere zuzugehen erfordert Mut, ist aber oft der entscheidende Schritt aus der Isolation. In der Gemeinde kann dies bedeuten, sich für eine Kleingruppe anzumelden, an einem Kurs teilzunehmen oder sich für eine überschaubare Aufgabe zu engagieren.

Realistische Erwartungen sind wichtig, um Enttäuschungen zu vermeiden. Tiefe Freundschaften entstehen nicht über Nacht, sondern wachsen langsam durch gemeinsame Erfahrungen und gegenseitiges Vertrauen. Die geduldige Kultivierung von Beziehungen ist eine Kunst, die in unserer schnelllebigen Zeit oft verloren geht.

Die eigenen Ressourcen und Fähigkeiten einzubringen schafft nicht nur für andere Mehrwert, sondern stärkt auch das eigene Zugehörigkeitsgefühl. In der armenischen Gemeinde können dies traditionelle Fertigkeiten sein – vom Zubereiten armenischer Speisen über Handarbeiten bis hin zu Sprachkenntnissen – oder auch ganz praktische Begabungen wie handwerkliches Geschick oder organisatorische Fähigkeiten.


Die Gemeinde als heilende Gemeinschaft

Für die Gemeindeleitung und engagierte Mitglieder ergeben sich folgende Handlungsfelder:

Die Entwicklung einer Kultur der Achtsamkeit, in der jeder Einzelne wahrgenommen wird. Dies kann durch einfache Praktiken gefördert werden: das Lernen und Verwenden von Namen, das bewusste Begrüßen von Menschen, die allein kommen, das Nachfragen bei längerer Abwesenheit. Besonders in der Diaspora, wo Menschen oft zwischen verschiedenen kulturellen Identitäten navigieren, ist diese Wahrnehmung als vollwertiges Gemeindemitglied von großer Bedeutung.

Die Schaffung verschiedener Ebenen der Teilhabe, die unterschiedlichen Bedürfnissen und Möglichkeiten gerecht werden. Während einige Menschen tiefe, verbindliche Beziehungen in Kleingruppen suchen, brauchen andere zunächst niederschwellige Angebote ohne hohe Verbindlichkeit. Ein vielfältiges Gemeindeleben mit unterschiedlichen Formaten – von Bibelkreisen über kulturelle Veranstaltungen bis hin zu Freizeitaktivitäten – ermöglicht verschiedene Zugänge zur Gemeinschaft.

Die Aufmerksamkeit für besonders gefährdete Gruppen ist ein Zeichen christlicher Nächstenliebe. In jeder Gemeinde gibt es Menschen mit erhöhtem Einsamkeitsrisiko: Neu Zugezogene, sprachlich Isolierte, Alleinerziehende, Verwitwete, chronisch Kranke oder Menschen mit Mobilitätseinschränkungen. Gezielte Angebote für diese Gruppen und praktische Unterstützung, etwa durch Fahrdienste oder Kinderbetreuung, können Barrieren zur Teilnahme abbauen.

Die Förderung von Verbindlichkeit und Verantwortungsbewusstsein in den Beziehungen. In einer Kultur, die unverbindliche Optionen bevorzugt, ist die verbindliche Zugehörigkeit ein Gegengewicht. Traditionelle armenische Werte wie Gastfreundschaft, Familienverbundenheit und gemeinschaftliche Verantwortung können hier neu interpretiert und als Ressourcen genutzt werden.

Die Einbindung moderner Kommunikationsmittel als Ergänzung, nicht als Ersatz für persönliche Begegnung. Digitale Plattformen können helfen, den Kontakt zwischen Präsenztreffen aufrechtzuerhalten oder Menschen einzubinden, die aus gesundheitlichen oder logistischen Gründen nicht physisch teilnehmen können. Gerade in der Diaspora, wo Gemeindemitglieder oft weit verstreut leben, können digitale Werkzeuge die Gemeinschaft stärken.


Die Verheißung der Gemeinschaft

Die Überwindung der Einsamkeit ist nicht nur eine soziale oder psychologische Aufgabe, sondern hat eine tiefe geistliche Dimension. In der orthodoxen Tradition weist die irdische Gemeinschaft der Kirche immer über sich hinaus auf die größere Gemeinschaft des Reiches Gottes.

Die Fastenzeit führt uns auf Ostern zu – das Fest, an dem die zerbrochene Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch wiederhergestellt wird. In der armenischen Liturgie der Ostervigil wird dies besonders eindrücklich gefeiert: Das Licht der Auferstehung breitet sich von Kerze zu Kerze aus, bis die ganze Gemeinde im Licht erstrahlt – ein kraftvolles Symbol für die Gemeinschaft, die sich ausbreitet und die Dunkelheit der Isolation überwindet. Das Altarvorhang wird ab Abend nach dem Palmsonntag geöffnet, die Trennung zwischen Mensch und Gott wird durch die Passion und Auferstehung Christi überwunden.

In dieser Hoffnungsperspektive wird die Gemeinde zum Vorgeschmack des kommenden Reiches, in dem alle Trennung überwunden ist. Jeder Schritt aus der Einsamkeit, jede heilende Begegnung, jede wiederhergestellte Beziehung ist ein Zeichen dieses Reiches inmitten unserer gebrochenen Welt.


Gebet in Zeiten der Einsamkeit

Christus, Licht der Welt,
der du in die Dunkelheit unserer Einsamkeit hineinleuchtest,
sieh uns an in unserer Isolation.
Wo wir uns unverstanden fühlen,
schenke uns Menschen, die zuhören.
Wo wir uns vergessen fühlen,
lass uns deine beständige Gegenwart spüren.

Belebe unsere Gemeinschaft als Leib Christi,
damit jedes Glied seinen Platz findet
und niemand allein bleiben muss.
Lehre uns, einander mit deinen Augen zu sehen,
als kostbare Kinder Gottes,
in ihrer Einzigartigkeit und Würde.

Öffne uns für die Fremden in unserer Mitte,
die Stillen, die Neuen, die am Rand Stehenden.
Erinnere uns an deine Verheißung:
Wo zwei oder drei in deinem Namen versammelt sind,
bist du mitten unter ihnen.

Erneuere uns in der Fastenzeit,
damit wir als verwandelte Gemeinschaft
das Licht deiner Auferstehung weitertragen
in eine Welt, die nach Verbundenheit hungert.
Amen.


Reflexionsfrage: Wo erlebe ich in meinem Leben Einsamkeit, und welchen ersten Schritt könnte ich in dieser Fastenzeit wagen, um einer tieferen Gemeinschaft Raum zu geben – mit Gott, mit anderen, mit mir selbst?


Infokasten: Wege aus der Einsamkeit

  • In unserer Gemeinde:
    • Regelmäßige Gottesdienste mit anschließendem gemeinsamen Mahl
    • Kleingruppen zu verschiedenen Themen (Bibelstudium, Jugendgruppen, armenische Kultur)
    • Besuchsdienst für Kranke und Alleinstehende
    • Gemeindecafé nach den Gottesdiensten
    • Fahrdienst für Gemeindemitglieder mit eingeschränkter Mobilität
  • Allgemeine Hilfsangebote:
  • Digitale Verbindung zur armenischen Gemeinschaft:
    • Livestreams von Gottesdiensten
    • Soziale Medien der Gemeinde
    • App mit täglichen Gebeten in armenischer und deutscher Sprache

„Wer einen Menschen aus der Einsamkeit befreit, tut ein größeres Wunder als wer einen Toten auferweckt.“ – Inspiriert von Worten des heiligen Gregor von Narek