Kinder in der Scheidung:
Wenn Loyalitäten zerreißen
Von Pfr. Dr. Diradur Sardaryan,
Gemeindepfarrer
In meiner Praxis als Pfarrer begegne ich ihnen immer wieder: Den zerbrochenen Familien, in denen Kinder zwischen den Welten wandeln. Zwischen Mutter und Vater. Zwischen Liebe und Verbitterung. Zwischen dem, was war und dem, was sein könnte. Die Große Fastenzeit lädt uns ein, über diese Wunden nachzudenken – nicht um in ihnen zu verharren, sondern um Wege der Heilung zu finden. Dieser erster Beitrag behandelt einen Ausschnitt der Problematik elterlicher Entfremdung, der von einigen als stereotyp empfunden werden könnte. Doch ein Folgebeitrag wird weitere Aspekte, darunter die Rolle von Vätern als entfremdende Elternteile sowie Trennungssituationen bei häuslicher Gewalt oder Missbrauch, thematisieren.
Im Schatten der Trennung:
Eine Geschichte, wie viele andere
Er sitzt im Gemeindezentrum unserer Kirche, den Blick gesenkt. Der 13-Jährige kommt zum Jugendtreff, doch in letzter Zeit wirkt er abwesend, manchmal aggressiv. Seine Mutter bringt ihn gelegentlich zum Gottesdienst, seit sie und sein Vater sich vor zwei Jahren getrennt haben.
„Mein Vater ist ein Versager,“ sagt er unvermittelt. „Er hat uns verlassen. Meine Mutter sagt, er hat nie wirklich für uns sorgen wollen.“
Seine Worte hängen schwer im Raum. Auf behutsame Nachfrage erzählt der Junge, dass er seinen Vater seit Monaten nicht mehr gesehen hat. Die vereinbarten Besuchswochenenden wurden immer seltener. „Ist auch besser so,“ meint er mit einer Härte, die zu seiner Jugend nicht passen will.
Was er nicht sieht: Wie seine Mutter aufatmet, wenn er einen Besuch bei seinem Vater absagt. Wie sie unterschwellig Informationen über neue „Enttäuschungen“ einfließen lässt. Wie sie – selbst tief verletzt – ihren Sohn unbewusst zum Verbündeten im Kampf gegen den Ex-Partner macht.
Und was er ebenfalls nicht sieht: Wie sein Vater vor der Tür des Gemeindezentrums wartet, sich aber nicht hineintraut. Wie er Geschenke kauft, die er nie übergibt. Wie er langsam resigniert, weil sein Sohn am Telefon einsilbig bleibt, ja ihn sogar beschimpft oder Treffen absagt.
Die verborgene Epidemie:
Elterliche Entfremdung
Diese Geschichte ist kein Einzelfall. Sie spiegelt ein Phänomen wider, das in der Fachliteratur als „elterliche Entfremdung“ bezeichnet wird und in Deutschland jährlich etwa 20.000 bis 40.000 Kinder betrifft. Besonders Jungen in der Pubertät leiden darunter, wenn sie in den Loyalitätskonflikt zwischen den Eltern hineingezogen werden.
Elterliche Entfremdung findet statt, wenn ein Kind nach einer Trennung eine stark negative Haltung gegenüber einem Elternteil entwickelt, die in keinem Verhältnis zu den tatsächlichen Erfahrungen mit diesem Elternteil steht. Diese Ablehnung wird maßgeblich durch den betreuenden Elternteil – bewusst oder unbewusst – gefördert.
Studien im Journal of Family Psychology zeigen, dass Jungen in der Pubertät besonders anfällig für diese Dynamik sind. Sie suchen nach ihrer Identität und männlichen Rollenvorbildern. Wenn die Mutter – bei der die Kinder nach einer Trennung noch immer überwiegend leben – negative Bilder vom Vater vermittelt, kann dies tiefgreifende Auswirkungen haben:
- Schulische Leistungen sinken dramatisch
- Aggressives Verhalten nimmt zu
- Depressive Symptome treten häufiger auf
- Die Fähigkeit, gesunde Beziehungen zu führen, wird untergraben
Eine Langzeitstudie, veröffentlicht in der Fachzeitschrift PMC, belegt: Erwachsene, die als Kinder elterliche Entfremdung erlebten, leiden überproportional häufig unter Angststörungen, Bindungsproblemen und einer gestörten Identitätsentwicklung.
Was wir in der Pubertät besonders beobachten, ist die schmerzhafte Frage nach dem eigenen Wert. Wenn der Vater als „schlecht“ dargestellt wird, fragt sich der heranwachsende Junge unbewusst: „Was bin ich dann? Trage ich das Schlechte in mir?“
Wenn Worte zu Waffen werden
Eine alleinerziehende Mutter erkannte erst spät, welchen Schaden ihre Verbitterung anrichtete: „Nach der Trennung habe ich meinen Sohn unbewusst gegen seinen Vater aufgebracht. Jedes Mal, wenn er zu spät vom Besuchswochenende kam, kommentierte ich: ‚Typisch, auf deinen Vater ist eben kein Verlass.‘ Wenn er etwas vergaß, sagte ich: ‚Da sieht man wieder, wie wichtig du ihm bist.'“
Was als Ventil für ihren eigenen Schmerz begann, wurde zu einem Gift, das langsam die Vater-Sohn-Beziehung zersetzte. Ihr Sohn, damals 12, begann die Besuche bei seinem Vater abzusagen. Er entwickelte Verhaltensprobleme in der Schule und zog sich von Freunden zurück.
„Die Wende kam in der Großen Fastenzeit“ erzählt die Mutter. „In der Predigt ging es über Bitterkeit als selbstgewähltes Gift. Der Pfarrer sagte: ‚Wer nicht vergeben kann, trinkt täglich Gift und hofft, dass der andere daran stirbt.‘ Das traf mich ins Herz. Ich erkannte, dass ich nicht nur mich selbst vergiftete, sondern auch meinen Sohn.“
Der Weg zur Heilung war nicht einfach. Die Mutter begann eine Therapie, suchte seelsorgerische Begleitung und änderte bewusst ihre Sprache über ihren Ex-Mann. „Heute sage ich meinem Sohn: ‚Dein Vater und ich haben Fehler gemacht, aber er liebt dich.‘ Und ich meine es so.“
Die Große Fastenzeit:
Eine Zeit der Umkehr und Heilung
Die Große Fastenzeit in der armenischen Tradition ist mehr als nur Verzicht auf bestimmte Speisen. Sie ist eine Zeit der apashkharutyun (ապաշխարություն), der metanoia – der tiefen Umkehr und inneren Wandlung. Für Eltern in Trennungssituationen bietet sie einen besonderen Rahmen, um destruktive Muster zu durchbrechen.
Die Fastenzeit beginnt mit der Vergebung. Bevor wir in die vierzig Tage der Läuterung eintreten, bitten wir einander um Vergebung. Für getrennte Eltern kann dies ein kraftvolles Zeichen sein – nicht unbedingt für die Wiederherbeiführung der Beziehung, aber für die Heilung der Wunden, besonders im Interesse der Kinder.
Die Praxis des Innehaltens und der Selbstreflexion während der Fastenzeit bietet konkrete Ansätze:
- Bewusste Sprachveränderung: Eltern können täglich eine kurze Meditation einlegen und reflektieren: „Wie habe ich heute über den anderen Elternteil gesprochen?“
- Aktives Zuhören: Statt die Gefühle des Kindes zu lenken („Du bist sicher wütend auf Papa/Mama, weil…“), kann man offene Fragen stellen: „Wie war dein Tag bei Papa/Mama?“
- Das Gebet: Das Gebet, z.B. die wiederholte Anrufung „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner“ kann in Momenten der Bitterkeit oder Wut ein Anker sein.
- Die Beichte: Der geschützte Raum der Beichte oder eines Beichtgespräches mit dem Pfarrer erlaubt es Eltern, eigene Verfehlungen einzugestehen – auch die subtilen Formen der Manipulation durch negative Äußerungen über den Ex-Partner.
Die Fastenzeit erinnert uns daran, dass Auferstehung möglich ist. Auch aus dem Tod einer Beziehung kann neues Leben erwachsen – ein Leben, in dem Kinder die Liebe beider Eltern erfahren dürfen, unbelastet von den Konflikten der Erwachsenen.
Praktische Schritte für den Weg aus der Entfremdung
Für betroffene Familien gibt es konkrete Hilfestellungen, die sowohl auf psychologischen Erkenntnissen als auch auf geistlichen Prinzipien basieren:
Für den entfremdenden Elternteil:
- Erkennen Sie an, dass Ihre Gefühle und die Beziehung Ihres Kindes zum anderen Elternteil zwei getrennte Dinge sind
- Sprechen Sie respektvoll über den anderen Elternteil, selbst wenn es schwerfällt
- Fördern Sie aktiv den Kontakt zum anderen Elternteil
- Suchen Sie professionelle Hilfe, um Ihre eigenen Verletzungen zu verarbeiten
- Praktizieren Sie tägliche Gebete, um inneren Frieden zu finden
Für den entfremdeten Elternteil:
- Bleiben Sie beharrlich im Kontakt, auch wenn das Kind abweisend reagiert
- Vermeiden Sie Kritik am anderen Elternteil gegenüber dem Kind
- Konzentrieren Sie sich auf die Qualität der gemeinsamen Zeit, nicht auf Materielles
- Akzeptieren Sie, dass Heilung Zeit braucht und Rückschläge normal sind
- Suchen Sie fachliche Unterstützung
Für die Gemeinde.
Wenn eine Familie auseinanderbricht, stehen auch wir vor mehrfachen Herausforderungen, die in einer kleinen Diasporagemeinde wie der unsere besonders spürbar sind. In einer Gemeinschaft, in der jeder jeden kennt, wo familiäre Verbindungen sich über Generationen erstrecken, wird eine Scheidung schnell zu einer kollektiven Prüfung.
Wir kennen das schmerzhafte Muster: Nach einer Trennung meiden oft beide Elternteile mit ihren jeweiligen Verwandten den Gang zur Kirche, um unangenehmen Begegnungen aus dem Weg zu gehen. Die Kirche, die eigentlich ein Ort der Heilung sein sollte, wird vermieden. So verliert die Gemeinde nicht nur eine Familie, sondern oft ganze Netzwerke von Menschen, die sich verbunden fühlten. In unserer armenischen Diasporagemeinde, wo jedes Gemeindemitglied kostbar ist, wiegt dieser Verlust besonders schwer.
Wie können wir als Gemeinde einen Weg finden, in dieser schwierigen Situation ein Ort des Friedens zu bleiben? Folgende Ansätze haben sich in unserer Erfahrung als hilfreich erwiesen:
- Kinder besonders beachten: Unsere Sonntagsschule und Jugendgruppen sollten sichere Häfen sein, wo Kinder aus Trennungsfamilien ohne die Last elterlicher Konflikte sein dürfen.
- Armenisch-Apostolische Tradition: Unsere Gottesdienst und Surb Patarag enthält tiefe Weisheiten zum Thema Versöhnung, die während der Großen Fastenzeit besonders hervorgehoben werden kann. Sie ist u.a. auch ein Ort der Versöhnung.
- Mentoren anbieten: Eine Perspektive wäre ältere Männer oder Frauen aus der Gemeinde, die bei kirchlichen Aktivitäten helfen, als wertvolle Vorbilder für Jugendliche ohne präsenten Vater/Mutter einzusetzen.
- Seelsorge ohne Urteil: Als Seelsorger müssen wir beiden Elternteilen mit gleichem Respekt begegnen, besonders in unserer Situation, wo Hilfe in der Muttersprache oft schwer zu finden ist. Deshalb sollten alle Beteiligten auch verstehen, dass der Gemeindepfarrer neutral bleibt.
- Gebet als verbindende Kraft: In den Fürbitten können wir behutsam alle Familien einschließen, die unter Spannungen leiden – ohne Namen zu nennen.
Epilog: Eine Fastenzeit-Erfahrung
Inspiriert durch die Predigten zur Fastenzeit fasste eine Mutter einen Entschluss. Nach dem Sonntagsgottesdienst ging sie auf ihren Ex-Mann zu, der wieder einmal vor der Kirche wartete.
„Unser Sohn sollte seinen Vater kennen,“ sagte sie später in der Beratung. „Als ich während der Predigt hörte ‚Lasset uns einander vergeben‘, verstand ich, dass ich meinem Sohn die Chance auf beide Elternteile schulde.“
Es war kein einfacher Weg. Die erste Begegnung zwischen Sohn und Vater verlief kühl. Doch die Mutter hielt Wort und unterstützte die Wiederannäherung. Sie achtete auf ihre Sprache, ermunterte ihren Sohn zu den Treffen und bat selbst um Vergebung – bei ihrem Ex-Mann und vor allem bei ihrem Sohn.
Ein Jahr später verbringt der Junge wieder regelmäßig Zeit mit seinem Vater. Die Wunden sind nicht vollständig geheilt, aber es gibt Fortschritte. In der Öffentlichkeit spricht er nicht mehr abwertend über seinen Vater. Beim letzten Treffen erzählte er sogar stolz vom gemeinsamen Angelausflug.
Die Fastenzeit erinnert uns daran, dass wir als gefallene Menschen stets der Umkehr bedürfen. Doch sie erinnert uns auch an die Hoffnung der Auferstehung. Wo Familien zerbrechen, kann Gott neue Wege öffnen – Wege, auf denen Kinder die Liebe beider Eltern erfahren dürfen.
Gebet für Familien in Trennung
Barmherziger Gott,
Du kennst die Tiefe unseres Herzens
und unsere verborgenen Wunden.
Heile, was zerbrochen ist in unseren Familien.
Bewahre unsere Kinder
vor den Giften des Zorns und der Bitterkeit.
Lehre uns, selbst in Schmerz und Trennung
respektvoll miteinander umzugehen.
Hilf uns, unsere Kinder
nicht zu Werkzeugen unserer Verletzungen zu machen.
Schenke uns die Gnade der Vergebung,
damit unsere Kinder in Frieden aufwachsen können,
geliebt von beiden Eltern.
Amen.
Reflexionsfrage: Welche Worte oder Handlungen in meinem Leben müssen heilen, damit Kinder in meinem Umfeld unbelastet aufwachsen können? Wo bin ich aufgerufen zur apashchaturtyun – zur Umkehr meines Denkens und Handelns in Bezug auf zerrüttete Beziehungen?