Der Ruf in die kostbare Nachfolge
Von Pfr. Dr. Diradur Sardaryan
17.04.2025, Kehl
Liebe Gemeinde,
Das Evangelium nach Johannes (13.1-11) berichtet uns von einer einzigartigen Geschichte. Statt vom Abendmahl zu erzählen, wie dies die anderen Evangelisten tun, berichtet Johannes davon, wie der Herr den Jüngern die Füße wäscht. Ein merkwürdiger Tausch: Der Meister wird zum Knecht, der Herr zum Diener.
Wir haben es hier nicht mit einer rührseligen Geschichte zu tun, nicht mit einem frommen Beispiel, dem wir nacheifern sollten, sondern mit einem Geschehen, das unser Weltbild auf den Kopf stellt. Und genau darum geht es: Der Herr der Welt wäscht schmutzige Füße seiner Apostel. Wer das versteht, hat verstanden, wer Christus ist. Wer das versteht, weiß: Gott ist Liebe.
Die teure Gnade
„Gott ist Liebe.“ Dieses Wort wird oft als billige Beruhigung missbraucht, als eine Aussage, die uns in unserer Bequemlichkeit bestätigt. Doch wenn wir in der Fußwaschungsszene sehen, was diese Liebe Gottes bedeutet, entdecken wir: Sie ist unbequem. Sie fordert heraus. Sie stellt in Frage.
Die Liebe Gottes ist keine billige Gnade, die uns in unserem Zustand bestätigt. Sie ist teure Gnade, die uns herausruft aus unseren Selbsttäuschungen und Sicherheiten. Petrus erfährt dies am eigenen Leib: „Nimmermehr sollst du mir die Füße waschen!“ Er will in seiner vermeintlichen Ehrfurcht Christus gegenüber die eigene Würde bewahren. Er will den Abstand wahren zwischen dem Herrn und sich selbst.
Doch Christus durchbricht diese Grenze: „Wenn ich dich nicht wasche, hast du keinen Teil an mir.“ Die Gemeinschaft mit Christus gibt es nur in dieser radikalen Umkehrung der Verhältnisse. Hier liegt das Ärgernis des Evangeliums: Nicht wir dienen ihm, sondern er dient uns. Und nur wer sich diesem Dienst ausliefert, kann teilhaben an Christus.
Der Ruf in die Nachfolge
In unserer Zeit möchten wir gerne einen Christus haben, der unsere Pläne und Projekte segnet, der zu unseren Vorstellungen von einem gelingenden Leben passt. Die Fußwaschung aber zeigt uns einen Christus, der unser Verständnis von Würde und Ehre auf den Kopf stellt.
Hier wird die Nachfolge konkret: „Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe.“ Es geht nicht um ein Gefühl, nicht um eine fromme Stimmung, sondern um sichtbare Taten. Um den Dienst aneinander, der uns etwas kostet: unseren Stolz, unsere Bequemlichkeit, unser Ansehen.
Die Nachfolge Christi ist kein spiritueller Überbau für ein ansonsten unverändert bleibendes Leben. Sie bedeutet den täglichen Tod des alten Menschen in uns, der vor allem seine eigene Ehre sucht. Sie bedeutet das tägliche Aufstehen des neuen Menschen, dessen Ehre darin besteht, anderen zu dienen.
Die konkrete Gemeinde
Wir müssen uns fragen: Wie sieht eine Gemeinde aus, die das Wesen der Fußwaschung verstanden hat? Es ist keine Gemeinde, die sich in frommen Gefühlen ergeht. Es ist eine Gemeinde, die bereit ist, einander die Füße zu waschen. Konkret, nicht metaphorisch.
Der große armenische Kirchenvater Hovhannes Pluz hat recht: „Die Liebe macht den Menschen Gott ähnlich.“ Aber diese Gottebenbildlichkeit durch die Liebe gewinnen wir nicht durch schöne Worte über die Liebe. Wir gewinnen sie nur in der konkreten Tat der Liebe.
Was bedeutet es für uns, einander die Füße zu waschen? Es beginnt dort, wo wir dem anderen dienen, ohne darauf zu achten, ob er es verdient. Es zeigt sich dort, wo wir uns den Aufgaben nicht entziehen, die andere verschmähen. Es wird sichtbar dort, wo wir bereit sind, um Christi willen unsere Würde und Ehre preiszugeben.
Die Welt vor dem Kreuz
In unserer heutigen Welt suchen die Menschen nach Selbstverwirklichung, nach Anerkennung, nach Aufstieg. Das ist der Geist unserer Zeit, war vielleicht schon immer. Doch die Fußwaschung steht quer zu diesem Zeitgeist. Der Herr, der sich zum Knecht macht, widerspricht allen unseren Vorstellungen von Erfolg und Größe.
Doch gerade darin besteht der eigentliche Erfolg, die wahre Größe: In der Bereitschaft, zu dienen, statt sich dienen zu lassen. Darin liegt das Geheimnis der echten Vollmacht: Sie wird denen gegeben, die bereit sind, sie nicht zu gebrauchen.
Dies ist keine weltfremde Schwärmerei. Es ist ein nüchterner Blick auf die Wirklichkeit, wie sie ist: Nichts wird diese Welt mehr verändern als Menschen, die in der Nachfolge Christi bereit sind, einander zu dienen.
Die letzte Frage
Am Ende steht die Frage Christi an uns: „Versteht ihr, was ich euch getan habe?“ Haben wir verstanden, was es bedeutet, dass der Herr uns die Füße wäscht? Haben wir verstanden, was es bedeutet, dass er sich für uns hingibt bis zum Tod am Kreuz?
Brüder und Schwestern, diese Frage können wir nicht mit theologischen Formeln beantworten. Wir können sie nur mit unserem Leben beantworten. Wer Christ sein will, muss bereit sein, in der Nachfolge Christi zu leben, und das heißt: zu dienen, ohne nach dem Lohn zu fragen.
„Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe.“ Dies ist keine sentimentale Aufforderung zur Nächstenliebe. Es ist die Einladung in eine neue Wirklichkeit, in ein Leben unter der Herrschaft Christi, in dem die Verhältnisse dieser Welt umgekehrt werden: Der Erste wird der Letzte sein, und der Herr wird zum Knecht.
Das Kreuz steht am Ende dieses Weges. Aber ohne dieses Kreuz gibt es keine Auferstehung. Ohne den Tod des alten Menschen gibt es kein neues Leben. Ohne die Bereitschaft, mit Christus zu sterben, gibt es keine Gemeinschaft mit dem Auferstandenen.
Die Fußwaschung ruft uns in diese Nachfolge. Sie konfrontiert uns mit der Frage: Sind wir bereit, diesen Weg zu gehen? Nicht nur mit Worten, sondern mit unserem Leben? Nicht nur als fromme Übung, sondern als Hingabe unserer ganzen Existenz?
Vor dieser Frage stehen wir heute – jeder Einzelne von uns und wir als Gemeinde. Lassen wir uns vom Knecht-Herrn die Füße waschen, um dann selbst zu Knecht-Herren zu werden. Denn darin, und nur darin, besteht die kostbare Nachfolge.
Amen.