Sonntag der Vertreibung aus dem Paradies
Die Vertreibung und der Ruf nach Hause
Predigt von Pfarrer Dr. Diradur Sardaryan
gesprochen in am 10. März 2025 in Göppingen
Liebe Schwestern und Brüder in Christus,
habt ihr euch jemals gefragt, warum manche Orte in uns ein unerklärliches Heimweh auslösen? Habt ihr jemals einen Ort betreten, der euch mit einem unerklärlichen Heimweh erfüllt hat? Ein alter Pfad, ein bestimmter Duft, eine Melodie aus der Vergangenheit – und plötzlich zieht eine tiefe Sehnsucht durch das Herz. Wir nennen es Nostalgie. Doch was, wenn diese Sehnsucht mehr ist als bloße Erinnerung? Was, wenn diese Sehnsucht uns von etwas Tieferem erzählt – von einem Ort, den wir nie kannten und doch vermissen? Was, wenn sie ein Echo jenes Paradieses ist, das wir verloren haben?
Der verlorene Garten
Heute, am Sonntag der Vertreibung, stehen wir vor einer der tiefgründigsten Wahrheiten unseres Glaubens: Wir sind Heimatlose auf dieser Erde. Nicht durch Zufall, nicht durch kosmische Gleichgültigkeit, sondern durch eine tragische Wahl.
Denken wir an diesen Moment: Adam und Eva im Garten, umgeben von Fülle, in direkter Gemeinschaft mit Gott. Und dann – ein Biss in die Frucht. So einfach, so alltäglich. Genau wie unsere kleinen Entscheidungen jeden Tag.
Die Kirchenväter beschreiben diesen Moment erschütternd und fassen es zusammen:
„Wir waren Kinder des Lichts und wählten die Dunkelheit. Wir waren Erben des Himmels und griffen nach Staub.“
Was damals geschah, wiederholt sich heute tausendfach. Unsere Welt ist voll von glänzenden Früchten: „Klick hier, kauf das, sei wie sie, lebe für den Moment.“ Die sozialen Medien versprechen Gemeinschaft und liefern Einsamkeit. Die Wirtschaft verspricht Erfüllung durch Konsum und hinterlässt uns mit leeren Händen und überquellenden Schränken.
Wir stehen nicht mehr vor Eden mit einem Engel, der ein flammendes Schwert schwingt. Wir stehen vor Bildschirmen, die uns ständig zuflüstern: „Du hast nicht genug. Du brauchst mehr.“
Der heilige Johannes Chrysostomos würde heute vielleicht sagen: „Ihr scrollt durch fremde Leben und vergesst euer eigenes zu leben. Ihr sammelt Likes und verliert eure Seele.“
Die verborgene Gnade der Vertreibung
Doch hier kommt eine überraschende Wahrheit: Die Vertreibung war nicht nur Strafe – sie war vielmehr Gnade Gottes.
In der Genesis lesen wir Gottes Worte: „Nun muss ich verhindern, dass der Mensch auch vom Baum des Lebens isst und ewig lebt!“ (Gen 3,22). Viele verstehen das als Härte. Ich sage euch: Es war Barmherzigkeit.
Stellt euch vor: Ewig zu leben in einem Zustand der Trennung von Gott. Ewig gefangen in Selbstsucht, in Angst, in Scham. Das wäre keine Ewigkeit des Lebens, sondern eine Ewigkeit des Todes.
Die Vertreibung war Gottes Weg, uns zu sagen: „Dies ist nicht das Ende. Ich schließe eine Tür, um später eine größere zu öffnen.“
Wenn wir in der armenischen Tradition vom Sonntag der Vertreibung sprechen, betonen wir die Traurigkeit – nicht als Verzweiflung, sondern als Heilmittel. Unser Sharakan, unser heiliges Lied für diesen Tag, sagt: „Mit der Traurigkeit unseres Urvaters nehmen wir auch die Traurigkeit der Buße an.“
Wann habt ihr zuletzt wirklich getrauert – nicht um Menschen, sondern um euren Zustand der Trennung von Gott? Unsere Welt fürchtet die Traurigkeit. Sie verschreibt Ablenkung, Unterhaltung, ständige Betäubung der Seele.
Doch genau wie ein gebrochener Knochen nur heilen kann, wenn wir den Schmerz anerkennen und ihn richtig behandeln, so kann unsere Seele nur heilen, wenn wir unsere spirituelle Heimatlosigkeit erkennen und betrauern.
Das Fasten als Heimkehr
Die Große Fastenzeit, in der wir uns befinden, ist keine religiöse Diät. Sie ist ein Heimkehrprogramm. Mit jedem „Nein“ zu übermäßigem Essen, mit jedem „Nein“ zu digitaler Ablenkung, mit jedem „Nein“ zu unseren Süchten – und seien sie noch so klein – sagen wir eigentlich: „Ja, ich erinnere mich. Ja, ich gehöre nicht hierher. Ja, ich will zurück.“
Der Apostel Paulus schreibt im heutigen Lesungstext: „Stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes“ (Röm 12,2). Was bedeutet das konkret?
Es bedeutet:
– Wenn alle konsumieren, wählt das Teilen.
– Wenn alle schreien, wählt das Schweigen.
– Wenn alle rennen, wählt das Verweilen.
Nicht aus Trotz, sondern aus Sehnsucht nach dem, was wir verloren haben.
Nun kommt die wunderbare Nachricht: Die Tür zurück ins Paradies wurde nie vollständig verschlossen. In Christus wurde sie wieder weit geöffnet.
Die Worte Jesu im heutigen Evangelium nach Matthäus zeigen uns den Weg: „Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen“ (Mt 5,8). Dies ist keine fromme Poesie – es ist ein konkreter Weg zurück in die Gegenwart Gottes.
Ein reines Herz ist kein perfektes Herz. Es ist ein ehrliches Herz. Ein Herz, das seine Wunden kennt und sie vor Gott bringt. Ein Herz, das sagt: „Ich habe mich verlaufen, aber ich sehne mich nach Hause.“
Die Paradoxie der Heimkehr
Die tiefste Weisheit der östlichen Kirchenväter liegt in ihrem Verständnis dieses Paradoxons: Wir kehren ins Paradies zurück, aber es ist nicht dasselbe Paradies. Es ist mehr.
Der heilige Gregor von Narek, einer der größten armenischen Theologen, betet für diesen Heimkehr in seinem „Buch der Klagen“ und sagt in seiner Mystischen Art „Die Rückkehr zu Dir, o Gott, ist nicht ein Zurück, sondern ein Vorwärts. Nicht ein Verlust, sondern ein Gewinn. Nicht eine Einschränkung, sondern eine Erweiterung.“
In Christus wird das Paradies nicht einfach wiederhergestellt – es wird transformiert. Wir kehren nicht als die Unschuldigen zurück, die wir waren, sondern als die Geliebten, die wir immer sind.
Die Dringlichkeit des Heute
Ich spreche nicht von einer fernen Zukunft nach dem Tod. Ich spreche von heute. Von diesem Moment.
Unsere Welt steht vor Abgründen – ökologischen Krisen, gesellschaftlichen Spaltungen, einer tiefen spirituellen Leere, die sich hinter dem Lärm verbirgt. Die Wissenschaft gibt uns faszinierende Werkzeuge, aber keine Antworten auf die tiefsten Fragen des Herzens. Doch die Fastenzeit sagt: Jetzt ist die Zeit der Umkehr. Jetzt ist die Zeit, innezuhalten und zu erkennen, dass all das Rennen uns nicht näher zu uns selbst bringt.
Der heilige Ephraim der Syrer, dessen Gebet wir in dieser Zeit täglich sprechen, bittet: „Herr meines Lebens, nimm von mir den Geist der Trägheit, der Verzagtheit, der Herrschsucht und der leeren Worte.“
Gebet des Hl. Ephrem von Syrien
Herr und Gebieter meines Lebens, den Geist des Müßiggangs, der Verzagtheit, der Herrschsucht und der Geschwätzigkeit gib mir nicht!
Gib mir hingegen, Deinem Knecht, den Geist der Keuschheit, der Demut, der Geduld und der Liebe!
Ja, mein Herr und mein König, gib mir meine eigenen Sünden zu sehen und nicht meinen Bruder zu verurteilen, denn gesegnet bist Du in die Ewigkeit der Ewigkeit. Amen.
Wie sieht diese Heimkehr praktisch aus? Ich gebe euch drei einfache, aber tiefgreifende Praktiken für diese Fastenzeit:
Erstens: Schafft jeden Tag Momente der Stille. Fünf Minuten ohne Telefon, ohne Worte, ohne Tun – nur Sein in der Gegenwart Gottes. Diese Stille ist der Anfang der Heimkehr.
Zweitens: Übt euch in Dankbarkeit. Nennt jeden Abend drei Dinge, für die ihr dankbar seid. Dankbarkeit ist das Gegenmittel für die Verführung durch das „Mehr“, die uns einst aus dem Paradies vertrieb.
Drittens: Teilt etwas, woran ihr hängt. Nicht das, was ihr übrig habt, sondern das, was euch etwas bedeutet. Das Teilen ist ein Akt der Befreiung vom Griff der Besitzgier.
Ich schließe mit einer Geschichte:
Ein alter armenischer Mönch wurde einmal gefragt: „Was ist das Schwerste am monastischen Leben?“ Die Leute erwarteten, dass er über Fasten oder Keuschheit sprechen würde. Stattdessen antwortete er: „Jeden Morgen aufzuwachen und sich daran zu erinnern, dass ich nicht zu Hause bin.“
Geliebte, das ist unser Zustand. Wir sind nicht zu Hause. Doch das ist keine Botschaft der Verzweiflung, sondern der Hoffnung. Denn wer weiß, dass er nicht zu Hause ist, der kann sich auf den Heimweg machen.
Die armenische Kirche hat in ihrer Geschichte viele Vertreibungen erlebt – aus Ländern, aus Häusern, von heiligen Stätten. Doch sie hat überlebt, weil sie wusste, dass sie eines Tages Heimkehren wird.
In dieser Fastenzeit lade ich euch ein: Spürt die heilige Unruhe. Hört den leisen Ruf nach Hause. Und dann – macht euch auf den Weg. Nicht allein, sondern gemeinsam. Nicht in Furcht, sondern in Hoffnung.
Denn Christus hat gesagt: „Im Hause meines Vaters sind viele Wohnungen“ (Joh 14,2). Und eine davon wartet auf dich.
Möge der Herr, der uns in Liebe erschaffen, in Liebe erlöst und in Liebe heimruft, euch durch diese Fastenzeit führen. Möge Er eure Herzen reinigen, eure Sinne erneuern und euch würdig machen, sein Angesicht zu schauen.
Amen.

Kurze Zusammenfassung der heutigen Lesungen:
Lukas 4,43–5,11: Jesus verkündet das Reich Gottes und zieht predigend durch Galiläa. Am See Gennesaret steigt er in Simons Boot, lehrt die Menge und fordert Simon auf, die Netze ins tiefe Wasser zu werfen. Trotz einer erfolglosen Nacht gehorcht Simon und erlebt einen wunderbaren Fischfang. Er erkennt seine Sündhaftigkeit, doch Jesus beruft ihn und seine Gefährten, „Menschenfischer“ zu werden. Sie lassen alles zurück und folgen ihm.
Botschaft: Gehorsam gegenüber Gott führt zu Segen und Berufung, selbst inmitten von Zweifel.
Jesaja 33,2–22: Der Prophet fleht um Gottes Erbarmen und preist seine Macht. Gott wird die Feinde richten, die Gerechten schützen und Zion als Stadt des Heils aufrichten. Wer gerecht lebt, wird in Sicherheit wohnen, während die Gottlosen untergehen.
Botschaft: Vertrauen auf Gott bringt Rettung; Gerechtigkeit ist der Weg zum Heil.
Römer 12,1–13,10: Paulus fordert die Gläubigen auf, sich Gott als lebendiges Opfer hinzugeben und sich nicht der Welt anzupassen, sondern ihren Sinn zu erneuern. Er beschreibt die Vielfalt der Gaben im Leib Christi und ruft zu Liebe ohne Heuchelei, Geduld im Leid und Segen statt Fluch auf. Liebe erfüllt das Gesetz.
Botschaft: Christliches Leben ist Hingabe, Liebe und Umkehr – ein Gegenentwurf zur Welt.
Matthäus 5,17–48: Jesus erklärt, dass er das Gesetz nicht aufhebt, sondern erfüllt. Er fordert eine tiefere Gerechtigkeit als die der Pharisäer: nicht nur äußerlich, sondern im Herzen – keine Wut, keine Lust, keine Rache, sondern Versöhnung, Reinheit und Liebe, sogar zu Feinden.
Botschaft: Wahre Nachfolge geht über Regeln hinaus zur Vollkommenheit in Liebe.