Von der Schöpfung zur Auferstehung:

Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter –
Wer ist mein Nächster?

4. Woche, Montag (24. März 2025):

Biblische Lesung für den Tag:
Lukas 10:25-37; Micha 6:6-8

Die existenzielle Frage nach dem Kreis der Liebe

„Wer ist mein Nächster?“ (Lk 10,29) – Hinter dieser scheinbar harmlosen Frage des Gesetzeslehrers verbirgt sich eine der grundlegendsten ethischen Herausforderungen: Wo ziehe ich die Grenze meiner Verantwortung? Wem bin ich Liebe schuldig und wem nicht? Die Frage impliziert bereits einen Versuch der Begrenzung – der Suche nach einer klaren Definition, die den Kreis der Nächstenliebe einschränkt und beherrschbar macht.

Die Antwort Jesu erfolgt nicht in Form einer abstrakten Definition, sondern als Erzählung – als dramatische Geschichte, die den Fragenden und alle Hörer in eine existenzielle Entscheidungssituation versetzt. Indem Jesus ein Gleichnis erzählt, lädt er den Gesetzeslehrer ein, selbst Teil der Geschichte zu werden und sich mit jedem der Charaktere zu identifizieren.

In der vierten Woche unserer Fastenreise, nachdem wir über die Taufe Jesu, seine Versuchung in der Wüste und die Seligpreisungen nachgedacht haben, kommen wir nun zu einer konkreten Veranschaulichung dessen, was es bedeutet, das Reich Gottes zu leben. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist gewissermaßen das Praxisbeispiel zu den Seligpreisungen – besonders zur Seligpreisung der Barmherzigen.

In der armenischen Tradition wird dieses Gleichnis oft in Verbindung mit der Fastenzeit betrachtet, denn es zeigt, dass wahres Fasten nicht nur den Verzicht auf Nahrung, sondern auch die tätige Zuwendung zum Notleidenden umfasst – gemäß dem Wort des Propheten Micha: „Man hat dir gesagt, o Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert: nichts anderes als Recht zu üben und Güte zu lieben und demütig zu gehen mit deinem Gott.“ (Mi 6,8)


Der historische und kulturelle Kontext des Gleichnisses

Um die revolutionäre Kraft des Gleichnisses zu verstehen, müssen wir drei wichtige Aspekte seines historischen Kontextes beachten:

1. Der Weg von Jerusalem nach Jericho

Die Straße von Jerusalem nach Jericho, auf der das Gleichnis spielt, war berüchtigt für ihre Gefährlichkeit. Sie führt durch felsiges, unwirtliches Gelände und verliert auf einer Strecke von nur 27 Kilometern etwa 1000 Höhenmeter. Zahlreiche Höhlen und Felsspalten boten ideale Verstecke für Räuber. Die Hörer des Gleichnisses kannten diese Straße und wussten um ihre Gefahren – die Situation des Überfalls war also durchaus realistisch.

2. Die religiöse Bedeutung von Priester und Levit

Die beiden ersten Passanten – Priester und Levit – waren nicht zufällig gewählt. Sie repräsentierten die religiöse Elite Israels und sollten als besonders treue Befolger des Gesetzes gelten. Ihre Pflicht wäre es gewesen, dem Verwundeten zu helfen, denn das Gebot der Nächstenliebe war Teil der Tora (Lev 19,18). Doch sie gehen vorüber – möglicherweise aus Angst vor Räubern, vielleicht aus Sorge um rituelle Unreinheit (die Berührung eines Blutenden oder möglicherweise Toten hätte sie für den Tempeldienst unrein gemacht), oder einfach aus Gleichgültigkeit.

3. Die Feindschaft zwischen Juden und Samaritern

Der dritte Passant – der Samariter – war für die jüdischen Hörer eine schockierende Wahl. Die Samariter waren eine religiöse Gruppe in Palästina, die aus der Vermischung von Israeliten mit fremden Völkern hervorgegangen war. Sie verehrten denselben Gott wie die Juden, hatten aber ihren eigenen Tempel auf dem Berg Garizim und erkannten nur die fünf Bücher Mose als heilige Schrift an. Zwischen Juden und Samaritern herrschte tiefe Feindschaft und gegenseitige Verachtung.

Dass ausgerechnet ein Samariter zum Helden der Geschichte wird, während die religiösen Autoritäten versagen, war für die Zuhörer Jesu höchst provokativ, doch sie lud zum Nachdenken ein.


Die dramaturgische Struktur des Gleichnisses

Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter ist ein Meisterwerk der Erzählkunst, das in wenigen, prägnanten Sätzen eine ganze Welt von Bedeutungen eröffnet:

1. Die Exposition (V. 30)

„Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halbtot liegen.“

Bemerkenswert ist, dass das Opfer völlig anonym bleibt – wir erfahren nichts über seine Herkunft, Religion oder seinen sozialen Status. Diese Anonymität ist theologisch bedeutsam: Das Opfer repräsentiert den Menschen schlechthin, jeden Menschen in seiner Verletzlichkeit und Hilfsbedürftigkeit.

2. Die erste Reaktion (V. 31)

„Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging vorüber.“

Der erste potenzielle Helfer ist ein Priester – jemand, von dem man aufgrund seiner religiösen Funktion besondere Barmherzigkeit erwarten würde. Doch er „sah ihn und ging vorüber“. Das griechische Verb antiparēlthen (wörtlich: „er ging auf der anderen Seite vorbei“) deutet an, dass er bewusst Abstand hielt und einen Bogen um den Verwundeten machte.

3. Die zweite Reaktion (V. 32)

„Ebenso kam auch ein Levit zu der Stelle; er sah ihn und ging vorüber.“

Die Wiederholung verstärkt die Dramatik. Der Levit, ein weiterer religiöser Funktionär, verhält sich genau wie der Priester. Die religiöse Elite versagt kollektiv.

4. Die dritte und entscheidende Reaktion (V. 33-35)

„Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam zu ihm; er sah ihn und hatte Mitleid, ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein eigenes Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn. Und am nächsten Tag holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme.“

Die Hilfe des Samariters wird in sieben konkreten Schritten beschrieben, die eine umfassende und fortdauernde Sorge zeigen. Besonders auffällig ist das Wort esplanchnisthē („er hatte Mitleid“), das im Neuen Testament meist für das Mitgefühl Jesu verwendet wird und wörtlich ein „Bewegt-Sein im Innersten“ beschreibt.

5. Die überraschende Wendung (V. 36-37a)

„Was meinst du: Wer von diesen dreien hat sich als der Nächste dessen erwiesen, der von den Räubern überfallen wurde? Der Gesetzeslehrer antwortete: Der, der barmherzig an ihm gehandelt hat.“

Mit einer brillanten rhetorischen Wendung kehrt Jesus die ursprüngliche Frage um. Der Gesetzeslehrer hatte gefragt: „Wer ist mein Nächster?“ – eine Frage, die darauf abzielt, den Kreis der Liebe zu begrenzen. Jesus fragt stattdessen: „Wer hat sich als Nächster erwiesen?“ – eine Frage, die die Perspektive fundamental ändert.


Die dreifache Dimension des Gleichnisses

Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter entfaltet seine Bedeutung auf mindestens drei Ebenen:

1. Die ethisch-praktische Dimension

Auf der unmittelbarsten Ebene ist das Gleichnis eine Aufforderung zur tätigen Nächstenliebe, die keine Grenzen kennt. Es lehrt, dass wahre Frömmigkeit nicht in ritueller Reinheit oder theoretischem Wissen besteht, sondern in praktischer Barmherzigkeit.

Die Definition des Nächsten wird radikal erweitert: Der Nächste ist nicht nur der Freund, der Verwandte oder der Glaubensgenosse, sondern jeder Mensch in Not – unabhängig von seiner Herkunft, Religion oder Lebensweise. Mehr noch: Statt zu fragen „Wer ist mein Nächster?“, sollte ich fragen „Wem kann ich Nächster werden?“

Diese ethische Dimension des Gleichnisses wird besonders im abschließenden Imperativ Jesu deutlich: „Dann geh und handle genauso!“ (V. 37b) Die Barmherzigkeit des Samariters soll nicht nur bewundert, sondern nachgeahmt werden.

2. Die christologische Dimension

In der Tradition der Kirchenväter, besonders bei Origenes, Ambrosius und Augustinus, wird das Gleichnis auch christologisch gedeutet: Der barmherzige Samariter ist ein Bild für Christus selbst, der der gefallenen Menschheit zu Hilfe kommt.

Diese Deutung wird durch verschiedene Details des Gleichnisses unterstützt:

  • Der Samariter ist ein „Fremder“ wie Christus, der in die Welt kam, aber nicht von der Welt ist.
  • Der Samariter zeigt ein Mitleid, das im Neuen Testament charakteristisch für Christus ist.
  • Er verwendet Öl und Wein, die als Symbole für die Sakramente gedeutet werden können.
  • Er bringt den Verwundeten in eine Herberge (die Kirche) und verspricht wiederzukommen (die Parusie).

In dieser Lesart wird das Gleichnis zu einer Allegorie der Heilsgeschichte, die die rettende Liebe Christi illustriert.

3. Die ekklesiologische Dimension

Eine dritte Interpretationsebene sieht in dem Gleichnis ein Modell für die Kirche. Wenn der Samariter Christus repräsentiert, dann repräsentiert die Herberge die Kirche, die zur Fortsetzung seines Heilungsdienstes berufen ist.

Der Wirt, dem der Samariter den Verwundeten anvertraut, kann als Bild für die Apostel und ihre Nachfolger verstanden werden, die die Sorge für die verwundete Menschheit übernehmen, bis Christus wiederkommt.

Diese ekklesiologische Lesart erinnert die Kirche an ihre wesentliche Berufung: Sie soll ein Ort der Heilung und Wiederherstellung sein, an dem die Barmherzigkeit Christi konkret erfahrbar wird.


Die Barmherzigkeit als theologische Tugend

Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter offenbart eine tiefe Theologie der Barmherzigkeit, die verschiedene Aspekte umfasst:

1. Barmherzigkeit als Wesenszug Gottes

Die Barmherzigkeit, die der Samariter zeigt, ist nicht nur eine menschliche Tugend, sondern ein Abbild der göttlichen Barmherzigkeit. In Christus hat Gott sich selbst als der barmherzige Samariter offenbart, der sich zu den Verwundeten und Gefallenen herabneigt.

Diese göttliche Barmherzigkeit wird im Alten Testament in der Selbstoffenbarung Gottes gegenüber Mose ausgedrückt: „Der HERR ist barmherzig und gnädig, langmütig und reich an Huld und Treue“ (Ex 34,6).

2. Barmherzigkeit als Überwindung von Grenzen

Die Barmherzigkeit des Samariters überwindet alle Grenzen – religiöse, ethnische und soziale Grenzen. Sie fragt nicht nach der Zugehörigkeit oder Würdigkeit des Anderen, sondern reagiert allein auf seine Not.

Diese grenzenlose Barmherzigkeit entspricht dem universalen Heilswillen Gottes, der „will, dass alle Menschen gerettet werden“ (1 Tim 2,4). Sie steht im Gegensatz zu jeder Form von Exklusivismus oder Partikularismus.

3. Barmherzigkeit als konkrete Praxis

Das Gleichnis betont die Konkretheit der Barmherzigkeit. Der Samariter hilft nicht durch fromme Worte oder theoretische Überlegungen, sondern durch handfeste Taten: Er verbindet Wunden, teilt seine Ressourcen und übernimmt Verantwortung.

Diese Konkretheit steht im Zentrum der biblischen Ethik, wie der Jakobusbrief es ausdrückt: „Was nützt es, meine Brüder und Schwestern, wenn jemand sagt, er habe Glauben, aber keine Werke kann er vorweisen?“ (Jak 2,14)


Praktische Übungen der Barmherzigkeit für die Fastenzeit

Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter lädt uns ein, die Barmherzigkeit nicht nur zu bewundern, sondern konkret zu praktizieren. Hier sind drei Übungen für die Fastenzeit:

1. Die Übung des achtsamen Sehens

Der erste Schritt der Barmherzigkeit ist das bewusste Wahrnehmen der Not des Anderen. Sowohl der Priester als auch der Levit „sahen“ den Verwundeten, aber sie nahmen seine Not nicht wirklich wahr. Der Samariter hingegen „sah ihn und hatte Mitleid“.

Nimm dir jeden Tag bewusst Zeit, um die Menschen um dich herum wirklich zu sehen. Achte besonders auf jene, die oft übersehen werden – die Einsamen, die Randständigen, die Stillen. Frage dich: Welche Not erkenne ich bei ihnen? Wie könnte ich ihnen helfen?

Diese Übung des Sehens kann durch ein kurzes Gebet unterstützt werden: „Herr, öffne meine Augen, damit ich die Not meiner Mitmenschen erkenne.“

2. Die Überwindung innerer Barrieren

Das Gleichnis fordert uns heraus, Grenzen zu überwinden – Grenzen der Sympathie, der Zugehörigkeit, der Bequemlichkeit. Der Samariter half, obwohl viele Gründe dagegen sprachen.

Überlege: Welche inneren Barrieren hindern mich daran, barmherzig zu handeln? Gibt es Menschen oder Gruppen, denen gegenüber ich Vorbehalte habe? Wie könnte ich einen Schritt über diese Grenzen hinaus wagen?

Wähle bewusst einen Menschen oder eine Situation aus, bei der du normalerweise zögern würdest zu helfen, und überwinde diese Barriere durch einen konkreten Akt der Barmherzigkeit.

3. Die Bereitschaft zu dauerhaftem Engagement

Der Samariter beschränkt seine Hilfe nicht auf eine einmalige Geste, sondern sorgt für eine nachhaltige Betreuung des Verwundeten. Er übernimmt Verantwortung auch für die Zukunft.

Überlege, wie du dich längerfristig für einen Menschen oder eine Sache engagieren könntest. Es muss kein großes Projekt sein – auch kleine, regelmäßige Akte der Fürsorge können eine tiefe Wirkung haben.

Diese Übung der dauerhaften Verantwortung kann dich lehren, dass wahre Barmherzigkeit nicht in flüchtigen Emotionen, sondern in beständiger Zuwendung besteht.


Gebet im Geist des barmherzigen Samariters

Herr Jesus Christus,
du bist der wahre barmherzige Samariter,
der sich in Liebe zu uns herabgebeugt
und unsere Wunden geheilt hat.
In dir hat Gott selbst uns seine Barmherzigkeit gezeigt
und uns den Weg zu wahrem Leben eröffnet.

Öffne meine Augen für die Not meiner Mitmenschen,
besonders für jene, die am Rand des Weges liegen
und leicht übersehen werden.
Gib mir den Mut, anzuhalten und zu helfen,
auch wenn es unbequem ist oder meine Pläne durchkreuzt.

Hilf mir, die Grenzen zu überwinden,
die mich von anderen trennen –
Grenzen der Vorurteile, der Angst, der Gleichgültigkeit.
Lass mich in jedem Menschen,
unabhängig von seiner Herkunft oder Lebensweise,
dein Ebenbild erkennen und ehren.

In dieser Fastenzeit lehre mich,
dass wahre Frömmigkeit nicht in äußeren Riten besteht,
sondern in der tätigen Liebe.
Lass mich ein Werkzeug deiner Barmherzigkeit sein
für eine Welt, die nach Heilung und Versöhnung dürstet.
Amen.


Die Umkehrung der Frage als Weg der Nachfolge

Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter endet mit einer überraschenden Wendung. Jesus kehrt die Frage des Gesetzeslehrers um: Statt „Wer ist mein Nächster?“ fragt er „Wer hat sich als Nächster erwiesen?“ Diese Umkehrung ist das eigentlich Revolutionäre des Gleichnisses.

Die ursprüngliche Frage geht von einer statischen, kategorialen Definition aus: Wer gehört zum Kreis derer, die ich lieben muss? Die neue Frage hingegen ist dynamisch und relational: Wie kann ich selbst zum Nächsten werden? Die erste Frage sucht nach Grenzen der Verantwortung, die zweite öffnet den Raum unbegrenzter Möglichkeiten der Liebe.

Diese Umkehrung entspricht der grundlegenden Bewegung des Evangeliums: Nicht die Erfüllung von Gesetzen führt zum Leben, sondern die tätige Nachfolge Christi, der selbst zum Nächsten für alle geworden ist. Nicht die theoretische Frage nach den Grenzen der Liebe ist entscheidend, sondern die praktische Frage nach den Möglichkeiten der Liebe hier und jetzt.

In dieser vierten Woche der Fastenzeit sind wir eingeladen, diese Umkehrung in unserem eigenen Leben zu vollziehen – von einer auf Regeln fixierten Religiosität zu einer von Barmherzigkeit geprägten Spiritualität, von der Frage „Was muss ich tun?“ zur Frage „Wie kann ich lieben?“, von der Definition des Nächsten zur Praxis der Nähe.

Pfr. Dr. Diradur Sardaryan