Von der Schöpfung zur Auferstehung:

Umkehr und Barmherzigkeit –
Der verlorene Sohn und Gottes Vergebung

2. Woche, Dienstag (11. März 2025):

Biblische Lesung für den Tag:
Lukas 15:11-32; Sprüche 28:13

Die Metanoia als existenzielle Heimkehr

Nach unserer Betrachtung des abrahamitischen Glaubensweges richten wir heute den Blick auf eine andere Dimension des geistlichen Lebens: die Umkehr (metanoia). Das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32) steht als leuchtendes Paradigma in der Mitte der Evangelien und offenbart die unermessliche Barmherzigkeit Gottes, die jeden Reuigen empfängt.

Die Umkehr ist im östlichen Verständnis keine bloße moralische Besserung, sondern eine tiefe existenzielle Neuausrichtung des ganzen Menschen. In der patristischen Tradition wird sie als „Heimkehr zu unserer wahren Natur“ verstanden. Sie ist nicht primär eine Abkehr vom Bösen, sondern vielmehr eine Hinkehr zum Guten – eine Wiederentdeckung unserer ursprünglichen Bestimmung in Gott.

In der armenischen Theologie nimmt das Thema der Umkehr und Barmherzigkeit einen zentralen Platz ein. Das „Buch der Klagen“ (Matean Voghbergutean) des heiligen Gregor von Narek (951-1003) ist eines der tiefgründigsten Werke der christlichen Spiritualität zu diesem Thema. Durch das gesamte Buch zieht sich die Spannung zwischen der menschlichen Sündhaftigkeit und der göttlichen Barmherzigkeit – eine Spannung, die auch im Gleichnis vom verlorenen Sohn erfahrbar wird.


Das Gleichnis vom verlorenen Sohn:
Eine spirituelle Topographie

Das lukanische Gleichnis entfaltet eine tiefgründige spirituelle Geographie, die den Weg der Seele nachzeichnet:

1. Das Vaterhaus und der Aufbruch: „Gib mir den Teil der Habe, der mir zusteht…“ (Lk 15,12). Der jüngere Sohn verlangt sein Erbe, als wäre der Vater bereits tot. In der patristischen Auslegung wird dies oft als Urbild der Sünde gedeutet: der Wunsch, ohne Gott autonom zu sein, das Leben als Eigentum statt als Gabe zu behandeln.

In der armenischen Tradition findet sich eine tiefe Reflexion über diese Selbstentfremdung des Menschen. Die Hymnen (Šarakans) und liturgischen Texte der armenischen Kirche thematisieren immer wieder diese fundamentale Abkehr des Menschen von seinem Schöpfer – eine Abkehr, die nicht nur den Einzelnen, sondern die gesamte Menschheit betrifft.

2. Das ferne Land und die Entfremdung: „Er zog in ein fernes Land und verschleuderte dort sein Vermögen…“ (Lk 15,13). Die Entfernung ist nicht nur geografisch, sondern vor allem spirituell zu verstehen. Der heilige Augustinus interpretiert das „ferne Land“ als Zustand der Gottvergessenheit, in dem der Mensch sein wahres Selbst verliert.

In der armenischen theologischen Tradition wird dieser Zustand der Entfremdung oft mit dem Bild der geistigen Blindheit assoziiert – ein Zustand, in dem der Mensch die Wahrheit nicht mehr erkennen kann. Es ist ein Zustand, in dem der Mensch immer ärmer wird, je mehr er konsumiert – ein Paradox, das die moderne Konsumgesellschaft anschaulich illustriert.

3. Die Krise und die Besinnung: „Als er alles aufgebraucht hatte, kam eine schwere Hungersnot über jenes Land…“ (Lk 15,14). Die äußere Not führt zur inneren Besinnung. In der armenischen und allgemein christlichen Tradition werden solche Krisenmomente oft als verborgene Gnade verstanden – als Möglichkeit zur Umkehr und Neuorientierung.

4. Die Entscheidung zur Umkehr: „Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen…“ (Lk 15,18). Dieser Moment der Entscheidung ist der Wendepunkt des Gleichnisses und des geistlichen Lebens. In der armenischen spirituellen Tradition wird die Bedeutung dieser bewussten Entscheidung betont – die Umkehr beginnt mit der Erkenntnis unseres wahren Zustandes vor Gott.

5. Der Weg zurück und die Begegnung: „Er machte sich auf den Weg zu seinem Vater. Dieser sah ihn schon von Weitem kommen und hatte Mitleid mit ihm“ (Lk 15,20). Der Weg zurück wird zum Weg der Begegnung. Der Vater wartet nicht passiv, sondern geht aktiv entgegen – ein bewegendes Bild für die zuvorkommende Gnade Gottes.


Die Theologie der göttlichen Barmherzigkeit

Das Gleichnis offenbart eine radikale Theologie der göttlichen Barmherzigkeit (eleos), die alle menschlichen Vorstellungen übersteigt. Der Vater verstößt nicht gegen die Gerechtigkeit, sondern transzendiert sie durch Liebe.

In der armenischen theologischen Tradition, besonders in den Schriften der Kirchenväter, wird oft über das Verhältnis von göttlicher Gerechtigkeit und Barmherzigkeit reflektiert. Der Gedanke, dass Gottes Gerechtigkeit stets von seiner Barmherzigkeit durchdrungen ist, findet sich in verschiedenen liturgischen Texten und theologischen Werken der armenischen Kirche.

Diese Barmherzigkeit zeigt sich in drei symbolischen Handlungen des Vaters:

  1. Die Umarmung und der Kuss (Lk 15,20): Zeichen der vollkommenen Annahme, bevor der Sohn überhaupt sein Bekenntnis aussprechen kann.
  2. Das beste Gewand (Lk 15,22): Symbol der wiederhergestellten Würde als Sohn. In der patristischen Auslegung wird hierin oft ein Bild für das Taufkleid gesehen, das die ursprüngliche Reinheit wiederherstellt.
  3. Das Festmahl (Lk 15,23): Vorwegnahme des eucharistischen Mahls, an dem der Zurückgekehrte wieder teilnimmt. In der armenischen Liturgie, wie in allen östlichen Liturgien, wird die Eucharistie als Fest der Versöhnung und Gemeinschaft gefeiert.

Der ältere Bruder:
Die Versuchung der Selbstgerechtigkeit

Das Gleichnis endet mit der Reaktion des älteren Bruders, der sich weigert, am Fest teilzunehmen. Sein Verhalten offenbart eine subtilere Form der Entfremdung – die Entfremdung durch Selbstgerechtigkeit und gesetzliche Frömmigkeit. „Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe niemals dein Gebot übertreten“ (Lk 15,29).

In der armenischen theologischen Tradition, etwa in den Schriften von Eznik von Kolb (ca. 380-450), finden sich Warnungen vor der Gefahr der Selbstgerechtigkeit. Seine apologetische Schrift „Wider die Sekten“ (De Deo) enthält Auseinandersetzungen mit verschiedenen Formen falscher Religiosität, darunter auch die Selbstgerechtigkeit, die den Geist der wahren Gottesbeziehung verfehlt.

Diese Warnung ist besonders relevant für die Fastenzeit, in der die äußere Askese zur Selbstgerechtigkeit verführen kann. Die armenische spirituelle Tradition betont, dass das äußere Fasten wertlos ist, wenn es nicht von einer inneren Umkehr begleitet wird.

Die Antwort des Vaters an den älteren Sohn zeigt, dass Gottes Barmherzigkeit beide Brüder einschließt: „Mein Kind, du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, ist auch dein“ (Lk 15,31). Der Vater lädt auch den Älteren zur Freude ein – zur Überwindung seines engen Gerechtigkeitsverständnisses durch die größere Gerechtigkeit der Liebe.


Philosophische Reflexion:
Umkehr als dialogisches Prinzip

Die Struktur des Gleichnisses vom verlorenen Sohn entspricht dem, was der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber (1878-1965) als dialogisches Prinzip bezeichnet. Der Mensch existiert nicht isoliert, sondern in Beziehung – zum „Du“ Gottes und zum „Du“ des Mitmenschen.

Die Sünde besteht nach Buber in der Reduktion des „Du“ zum „Es“ – in der Objektivierung Gottes und des Anderen. Die Umkehr ist entsprechend die Wiederherstellung der authentischen Ich-Du-Beziehung. Der Sohn kehrt zurück nicht nur zum Vaterhaus, sondern zur Ich-Du-Beziehung mit dem Vater.

In der armenischen philosophischen Tradition finden sich ähnliche Gedanken, besonders in den Werken von David dem Unbesiegbaren (6. Jh.), der in seinen philosophischen Schriften den Menschen als wesentlich beziehungshaftes Wesen (homo relationalis) begreift. Seine Kommentare zu Aristoteles und anderen Philosophen enthalten Reflexionen über die Natur des Menschen als Wesen in Beziehung.

Die Fastenzeit lädt uns ein, unsere grundlegenden Beziehungen zu erneuern – jene zum göttlichen Du und jene zum menschlichen Du. Wahre Umkehr ist immer eine Rückkehr zur authentischen Begegnung.


Praktische Übungen der Umkehr für die Fastenzeit

1. Examen des Gewissens: Entwickle eine tägliche Praxis der Selbstprüfung mit drei Schritten:

  • Ehrliche Erkenntnis der eigenen Verfehlungen ohne Selbstrechtfertigung
  • Betrachtung der göttlichen Barmherzigkeit, die größer ist als unsere Sünde
  • Entscheidung zur konkreten Umkehr im Alltag

Nimm dir jeden Abend 5 Minuten Zeit für diese dreifache Betrachtung.

2. Das Jesusgebet als Weg der ständigen Umkehr: Übe das kurze Gebet „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner“ als Atem des geistlichen Lebens. Dieses Gebet, das in der östlichen Tradition tief verwurzelt ist, kann zu verschiedenen Tageszeiten gesprochen werden, um die ständige Umkehr zu leben.

3. Die Praxis der Versöhnung: Überlege, ob es Menschen in deinem Leben gibt, mit denen du in Unfrieden lebst. Die Fastenzeit ist eine besondere Gelegenheit, konkrete Schritte der Versöhnung zu wagen – sei es durch ein Gespräch, einen Brief oder eine symbolische Geste.

4. Das Mysterium der Beichte oder geistliches Gespräch: Wenn möglich, sprich mit deinem Pfarrer über das Mysterium der Beichte oder suche ein geistliches Gespräch mit deinem erfahrenen geistlichen Begleiter. Die armenische Tradition kennt die Beichte (khosdovanuthiun) als heilsamen Weg, um das Verborgene ins Licht zu bringen und die Barmherzigkeit Gottes konkret zu erfahren.


Gebet um Umkehr und Vergebung

Barmherziger Vater,
der du auf meine Rückkehr wartest
wie der Vater im Gleichnis auf seinen verlorenen Sohn,
ich komme zu dir mit einem reuigen Herzen.

Ich bekenne vor dir:
Ich habe gesündigt, ich habe Unrecht getan,
ich habe mich von deinen Geboten entfernt,
ich habe deine Liebe mit Undankbarkeit vergolten.

Doch ich vertraue auf deine Barmherzigkeit,
die größer ist als meine Schwäche.
Nimm mich wieder auf als dein Kind,
kleide mich neu mit dem Gewand der Gnade
und lass mich teilhaben am Festmahl deiner Liebe.

Heile die Beziehungen, die ich durch meine Schuld zerbrochen habe.
Lehre mich, barmherzig zu sein wie du,
damit ich nicht wie der ältere Sohn in Selbstgerechtigkeit verharre,
sondern mit allen deinen Kindern Gemeinschaft halte.

Durch Christus, der gekommen ist,
um zu suchen und zu retten, was verloren war.
Amen.


Die Fastenzeit als Heimkehr zum Vater

Die zweite Woche der Fastenzeit führt uns tiefer in das Mysterium des Heils ein. Nach der Betrachtung des Glaubensweges Abrahams entfaltet sich heute vor uns das Bild der göttlichen Barmherzigkeit im Gleichnis vom verlorenen Sohn. Dieses Gleichnis ist mehr als eine moralische Erzählung – es ist ein Fenster in das Herz Gottes.

In der armenischen spirituellen Tradition wird diese Erfahrung der göttlichen Barmherzigkeit tief reflektiert. Das „Buch der Klagen“ des heiligen Gregor von Narek ist durchdrungen von dem Bewusstsein der menschlichen Sündhaftigkeit einerseits und dem Vertrauen auf die göttliche Barmherzigkeit andererseits.

Die Fastenzeit ist somit kein Weg der Selbstbestrafung, sondern ein Weg der Heimkehr – zum Vaterhaus, zum Festmahl, zur Freude. Wie der verlorene Sohn dürfen wir aufstehen und zurückkehren, in der Gewissheit, dass der Vater bereits auf uns wartet.

Pfr. Dr. Diradur Sardaryan