Zwischen Himmel und Erde:

Warum wir die Verstorbenen nicht vergessen dürfen

Ein Interview mit Pfarrer Diradur, Gemeindeseelsorger der Armenisch-Apostolischen Kirche in Baden-Württemberg, zum Merelots-Gedenken nach dem Fest der Verklärung Christi

AGBW-Redaktion (AGBW):
Pfarrer Diradur, die Armenische Apostolische Kirche gedenkt heute, am Tag nach der Verklärung Christi, der Verstorbenen. Was ist der tiefere Sinn dieses Merelots-Tages?

Pfarrer Diradur:
Der Merelots-Tag ist ein geistlicher Höhepunkt, der in seiner Tiefe oft unterschätzt wird. Die Verklärung Christi zeigt uns das Ziel des Menschseins – die Teilhabe an der Herrlichkeit Gottes. Und gleich darauf, am Tag danach, gedenken wir der Verstorbenen. Warum? Weil wir glauben, dass auch sie zur Verklärung berufen sind. Der Tod ist in unserer Tradition nicht das Ende, sondern eine Schwelle.

Wenn wir nach der Feier der Verklärung auf den Friedhof gehen oder ihre Namen in der Liturgie lesen lassen, dann ist das keine Geste der Nostalgie. Es ist ein Bekenntnis: dass unsere Gemeinschaft mit den Verstorbenen lebendig bleibt – durch unseren Herrn Jesus Christus. Ihre Namen sind nicht verblasst. Im Gegenteil: Sie werden vor Gott ausgesprochen – und dort bleibt kein Name vergessen.

AGBW:
Einige Stimmen, auch innerhalb der Gesellschaft, sagen: „Merelots – das ist doch Geschäftemacherei, ein religiöser Brauch mit kommerziellem Beigeschmack.“ Wie begegnen Sie solchen Vorwürfen?

Pfarrer Diradur:
Solche Urteile verletzen oft tief – nicht nur uns Priester, sondern vor allem die Gläubigen, die mit Aufrichtigkeit und Schmerz um ihre Lieben trauern.

Natürlich gibt es immer die Versuchung, religiöse Handlungen zu „verwirtschaftlichen“. Aber das Wesen des Merelots ist das genaue Gegenteil. Wir bitten die Gläubigen, Almosen zu geben, Speisen zu teilen oder Gedenk-Gaben zu bringen – nicht, weil wir daraus Profit schlagen wollen, sondern weil Liebe Ausdruck sucht. In der armenischen Tradition ist die Gute Tat in Erinnerung an die Verstorbenen eine konkrete Form geistlicher Verbundenheit. Ich habe alte Frauen erlebt, die mit zitternder Hand ein kleines Licht entzündeten und sagten: „Dies ist für meinen Sohn, den Gott zu sich nahm.“ Das ist keine Geschäftemacherei. Das ist betende Liebe. Die Gute Tat und das Spenden in Erinnerung an die Verstorbenen ist zudem immer freiwillig und kommt aus dem Herzen heraus und hilft bedürftigen weiter.

Es liegt an uns – Geistlichen und Laien –, das zu erklären, verständlich zu machen, durch Echtheit glaubwürdig zu leben. Und wenn es Missverständnisse gibt, dann müssen wir geduldig aufklären, nicht verurteilen.

AGBW:
Einwände kommen auch von protestantischer Seite – das Gedenken für die Verstorbenen sei biblisch nicht begründet oder gar „unwirksam“. Wie stehen Sie dazu?

Pfarrer Diradur:
Ich begegne solchen Stimmen mit Respekt, aber auch mit Klarheit. Zunächst: Die Heilige Schrift kennt sehr wohl das Gebet für die Verstorbenen. Denken wir an 2 Makkabäer 12, wo Judas Makkabäus ein Opfer für die Gefallenen darbringt, „weil er an die Auferstehung glaubte“.

Noch wichtiger ist aber das Bild der Kirche, das wir im Neuen Testament finden: Sie ist ein Leib – der Leib Christi. Dieser Leib kennt keine Trennung durch den Tod. Wenn Paulus im 1. Korintherbrief von der Auferstehung spricht, dann nicht nur in theologischen Begriffen, sondern als Trost, als lebendige Hoffnung. Und diese Hoffnung feiern wir in jeder Liturgie.

In der armenischen Kirche bringen wir die Namen der Verstorbenen in die Eucharistie (Surb Patarag). Das ist nicht einfach symbolisch. Es ist ein Akt der Fürbitte und der Erinnerung, getragen von der Gewissheit, dass die Liebe Christi stärker ist als der Tod. Und wer das ablehnt, dem würde ich sagen: Vielleicht geht es nicht nur um Wirksamkeit. Vielleicht geht es um Treue. Und um Liebe, die nicht aufhört.

AGBW:
Was macht das Gedenken an die Verstorbenen für die lebenden Menschen so bedeutend?

Pfarrer Diradur:
Ich würde sagen: Es ist eine Übung im Menschsein. Wer sich dem Gedenken verweigert, wird mit der Zeit auch den Blick für die Ewigkeit verlieren.

Die armenische Tradition kennt das Bild vom Sämann, der den Samen mit Mühe sammelt, dann aber in den Acker streut – in der Hoffnung, dass er Frucht trägt. Die Toten sind dieser Samen. Wir legen sie in die Erde – nicht aus Verzweiflung, sondern im Glauben, dass Gott sie auferweckt und daraus etwas viel Schöneres aufblüht.

Und für uns, die noch „pilgern“, ist das Gedenken auch seelischer Trost. Ich habe Menschen begleitet, die nach Jahren das erste Mal wieder weinen konnten – beim Merelots. Ich habe gesehen, wie das Entzünden einer Kerze, das gemeinsame Gebet, eine ganze Familie innerlich versöhnt hat.

Das Gebet für die Verstorbenen bringt uns in die Wahrheit: Dass wir alle auf dem Weg sind. Und dass wir einander brauchen – nicht nur im Leben, sondern auch über den Tod hinaus. Wer betet, heilt. Nicht immer sofort. Aber tief.

AGBW:
Was sagen Sie denen, die behaupten: „Die Verstorbenen können sich ja nicht mehr ändern – was bringt dann das Gebet?“

Pfarrer Diradur:
Es stimmt: Nach dem Tod gibt es kein aktives Bußsakrament mehr. Aber das bedeutet nicht, dass Gottes Barmherzigkeit aufhört zu wirken.

Die Kirchenväter, insbesondere Johannes Chrysostomos, lehren, dass das Gebet der Kirche für die Entschlafenen ein Trost ist – eine Art lindernder Balsam. Es hebt nicht automatisch die Folgen des Lebens auf. Aber es bringt Licht in Dunkel.

Und dann gibt es ja auch die große Demut: Wir wissen nie, wie das letzte Wort eines Menschen lautete, selbst wenn wir dachten, er sei fern von Gott. Vielleicht hat er im letzten Atemzug gerufen: „Erbarme dich meiner.“ Das ist genug.

Darum beten wir. Nicht aus Illusion. Sondern aus Hoffnung.

AGBW:
Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Merelots-Gedenkens, besonders hier in der Diaspora?

Pfarrer Diradur:
Ich wünsche mir, dass wir diese Tradition nicht folkloristisch verkürzen. Merelots ist kein Kulturabend oder eine Gelegenheit, um Helva zu verteilen. Es ist Liturgie, es ist Theologie, es ist eine Schule der Liebe.

Ich wünsche mir, dass wir als Armenier in Europa zeigen, was es bedeutet, die Toten nicht zu vergessen – nicht, weil wir der Vergangenheit verhaftet sind, sondern weil wir an die Zukunft glauben.

Ich wünsche mir, dass unsere jungen Menschen lernen: Wenn du den Namen deines Großvaters auf einen Zettel schreibst und ihn der Kirche gibst, dann tust du mehr als eine Geste. Du sagst damit: „Ich bin ein Teil dieser Geschichte. Ich trage dieses Licht weiter.“

Und ich wünsche mir, dass wir den Mut haben, auch unsere protestantischen oder säkularen Freunde einzuladen: nicht zur Bekehrung, sondern zur Teilhabe an einem Geheimnis, das größer ist als wir alle. Merelots ist nicht exklusiv. Es ist universell.

Denn am Ende bleibt: „Liebe hört niemals auf.“ (1 Kor 13,8)

AGBW:
Herzlichen Dank, Pfarrer Diradur, für dieses tiefe und bewegende Gespräch.