Die paradoxe Freude der Trennung
Christi Himmelfahrt in der Tradition
der Armenischen Apostolischen Kirche
„Wenn ihr mich wirklich liebtet, so würdet ihr euch freuen, dass ich zum Vater gehe“ – diese Worte unseres Herrn Jesus Christus aus dem Johannesevangelium (Joh 14,28) klingen zunächst paradox. Wie kann Trennung Freude bereiten? Wie kann Abschied zum Grund des Jubels werden? In der armenischen Tradition des Himmelfahrtsfestes, das als Hambardzum gefeiert wird, offenbart sich die tiefe Weisheit dieser scheinbar widersprüchlichen Worte.
Vierzig Tage nach der Auferstehung – so berichtet das Markusevangelium – wurde Jesus „in den Himmel aufgenommen und setzte sich zur Rechten Gottes“ (Mk 16,19). Was für die Jünger zunächst wie ein erneuter Verlust erscheinen mochte, entpuppte sich als die Vollendung des Heilswerkes und als Beginn einer neuen, noch tieferen Gemeinschaft mit ihrem Herrn.
Die theologische Dimension:
Menschheit im Herzen der Trinität
Die Himmelfahrt Christi ist weit mehr als ein historisches Ereignis – sie ist ein theologisches Ereignis von kosmischer Tragweite. In der ostkirchlichen Tradition, zu der die Armenische Apostolische Kirche gehört, wird betont, dass Christus nicht nur als Gott, sondern auch als Mensch in die Herrlichkeit des Vaters eingegangen ist. Mit seiner menschlichen Seele und seinem verklärten Leib sitzt er nun zur Rechten des Vaters.
Dies bedeutet, wie es der heilige Johannes Chrysostomus ausdrückt, dass im innersten Geheimnis der Heiligen Trinität nun der Mensch Jesus Christus wohnt. Unsere menschliche Natur ruht in den Tiefen Gottes. Durch die Inkarnation hatte sich der Sohn Gottes mit allem verbunden, was das Universum ausmacht – mit der sichtbaren und unsichtbaren Schöpfung. Nun trägt er diese Verbindung in die ewige Herrlichkeit hinein.
Diese Wahrheit eröffnet eine Perspektive von unermesslicher Tragweite: Die Erde, auf der wir leben, ist nicht mehr dieselbe wie vor der Menschwerdung. Sie ist durchdrungen von göttlicher Gegenwart, wird „gottempfänglich“ wie Brot und Wein in der Eucharistie. Die gesamte Schöpfung ist durch Christus mit dem lebendigen Gott verwandt geworden.
Die paradoxe Nähe in der Trennung
Paradoxerweise wurde Christus durch seine Himmelfahrt jedem von uns näher. Als er auf Erden wandelte, konnte er nur mit denen sprechen, die körperlich bei ihm waren. Seit seiner Himmelfahrt aber ist er – als Mensch, nicht nur als Gott – in der Ewigkeit gegenwärtig, und an jedem Ort können wir ihn spüren. So werden die Worte des Apostels Paulus verständlich: „Der Herr ist nahe“ (Phil 4,5).
Die Himmelfahrt eröffnet auch uns die Perspektive des Eintritts in diese Ewigkeit. Paulus verheißt uns, dass wir am Tag der Wiederkunft Christi „entrückt werden in den Wolken, dem Herrn entgegen in die Luft, und so werden wir bei dem Herrn sein allezeit“ (1 Thess 4,17). Die Kirchenväter vergleichen den auferstandenen Christus mit einem Adler, der seinen Jungen den Weg bahnt, oder mit einer Schwalbe, die dem Schwarm voranfliegt und ihm den Weg weist.
Armenische Traditionen:
Zwischen Himmel und Erde
In der armenischen Kultur hat das Himmelfahrtsfest eine besonders reiche Tradition entwickelt, die das spirituelle Geheimnis mit lebendigen Volksbräuchen verbindet. Der armenische Name Hambardzum (Himmelfahrt) wird im Volk oft auch als Vitschak (Los) oder Katnapuri (Milchfest) bezeichnet – Namen, die auf die verschiedenen Bräuche hinweisen, die das Fest umgeben.
Eine der bewegendsten Traditionen ist die Verehrung der Dzaghkamor (Blumenmutter), der heiligen Varvara. Der Überlieferung nach war Varvara eine junge Christin, die vor der Verfolgung ihres heidnischen Vaters aus Westarmenien bis zum Berg Ara bei Aschtarak floh. Als ihr Vater sie mit Hilfe von Hirten aufspürte, betete sie zu Gott, dass Kinder, die an der „Blumen-“ und „Scharlach“-Krankheit leiden, durch die Anrufung ihres Namens geheilt werden mögen. Gott erhörte ihr Gebet, und bis heute pilgern am Mittwoch und Donnerstag der Himmelfahrtswoche die Menschen zum Berg Ara, um für ihre kranken Kinder zu beten.
Besonders poetisch ist die Legende von Leyli und Medschlun, zwei Liebenden, die durch familiäre Zwänge getrennt wurden. Sie baten Gott, sie zu Sternen zu machen und zu sich in den Himmel zu nehmen. Gott erfüllte ihre Bitte, und einmal im Jahr – in der Himmelfahrtsnacht – vereinigen sich diese Sterne am Himmelszelt in einem warmen Kuss, bevor sie wieder an ihre Plätze zurückkehren. Der Volksglaube besagt, dass alle Wünsche derjenigen, die Zeugen dieses himmlischen Kusses werden, in Erfüllung gehen.
Gottes Geschenk an die zurückgelassene Kirche
Christus verließ seine Jünger nicht als Waisen. Er versprach ihnen den Heiligen Geist zu senden – den Geist der Sohnschaft. Durch ihn werden wir zu Teilhabern am Geist Christi. Wer ihm sein Herz öffnet, wird teilhaftig all dessen, womit Christus lebte: des grenzenlosen Glaubens, der alles überwindenden Hoffnung, der wunderbaren und unerschütterlichen Liebe.
Dieser Geist macht uns zusammen mit Christus zu Kindern Gottes und gibt uns die Möglichkeit, zu dem himmlischen Vater zu sagen: „Abba, Vater!“ Wir müssen ihn nicht mehr als den „Allmächtigen“ anrufen, sondern können ihn mit dem vertrauten Wort „Vater“ ansprechen. Derselbe Geist lehrt uns, dass jeder Mensch unser Bruder ist, für den wir bereit sein sollen – nein, „sollen“ ist ein schlechtes Wort, es bedeutet Pflicht, wir sprechen aber von Freude – für den wir wahrhaft bereit sind, unser Leben zu geben, damit er lebe, damit seine Seele aufjauchze, damit auch er in Gottes helle Ewigkeit eingehe.
Der Ruf zur selbstlosen Liebe
Das Himmelfahrtsfest ruft uns zu einer Liebe auf, die über das menschlich Mögliche hinausgeht. Christus lehrte uns zu lieben, wie der himmlische Vater liebt: Böse und Gute gleichermaßen. Nicht auf dieselbe Weise, aber gleichermaßen. Nicht auf dieselbe Weise, denn über die einen freut man sich, und wegen der anderen zerreißt das Herz; aber man liebt gleichermaßen. Man jubelt, weil einer gut und hell ist, und weint, weil ein anderer es nicht ist; aber man liebt gleichermaßen.
Diese Liebe soll sehr weit gehen. Christus gab uns das Beispiel, dem wir folgen sollen: So zu lieben, dass man das Leben hingibt als Geschenk für den, der es annehmen will. Aber zugleich, nachdem man es hingegeben hat, nicht in der Liebe zu wanken. Deshalb weisen so viele Christus zurück und können ihn nicht annehmen: weil so zu lieben bedeutet, dem Tod zuzustimmen. Jeder, der liebt, stirbt in gewisser Weise. Wer liebt, lebt nicht mehr für sich selbst, sondern für den Geliebten. Wer vollkommen liebt, vergisst sich selbst bis zum Ende und lebt nur in dem und für den, den er liebt.
Die Verheißung der Gemeinschaft
Doch in dieser scheinbar fordernden Botschaft liegt eine der herrlichsten Freuden, die uns der Herr hinterlassen hat: die Gewissheit, dass wir so lieben können, dass der Mensch so groß ist, dass er sogar dazu fähig ist. Die Apostel konnten nach der Himmelfahrt jubelnd und frohlockend zur Verkündigung hinausgehen, ohne Furcht vor Verfolgungen, Bedrängnissen, Qualen, Tod oder Verbannung. Sie gingen mit Freude, weil sie bereits alles hatten: Sie hatten den Himmel auf Erden, sie hatten die Ewigkeit in sich selbst, und sie waren in der Ewigkeit.
Das ist das Ziel unseres Wachstums. Durch Glauben und Hinwendung zu Gott sollen wir vielleicht mit ihnen zusammen, jedenfalls aber in der Tat zu ihrer Größe heranwachsen, so werden wie sie in Wirklichkeit waren: liebend mit ganzem Herzen, mit ganzem Verstand – findigem, nüchternem, schöpferischem Verstand –, mit ganzem Willen – gestähltem, starkem, selbstvergessenen Willen –, mit unserem ganzen Leben, und wenn nötig auch mit unserem ganzen Tod, und das nicht nur aus Liebe zu Gott, sondern auch aus Liebe zum Nächsten, zu jedem Menschen.
Ein Fest der Hoffnung
Das Himmelfahrtsfest ist kein Fest der Trennung, sondern der Vollendung und der Hoffnung. Es lädt uns ein, über den irdischen Horizont hinauszublicken und zu erkennen, welche unermessliche Würde dem Menschen zugedacht ist. Wenn Christus unsere menschliche Natur in die Tiefen der göttlichen Trinität hineingetragen hat, dann ist auch unser Ziel klar: Wir sind berufen, in diese Gemeinschaft mit Gott hineinzuwachsen, schon hier und jetzt, durch den Geist der Liebe, den er uns geschenkt hat.
Der Nächste – das ist jeder, der uns braucht. Erweisen wir diese Liebe jedem einzelnen Menschen, der neben uns steht, und wachsen wir selbst hinein in das Maß wahrer kirchlicher Freude. Denn in der Himmelfahrt Christi liegt nicht nur die Verheißung unserer eigenen Vollendung, sondern auch die Zusage, dass alle unsere Bemühungen um Liebe, Gerechtigkeit und Frieden von dem getragen sind, der als unser Bruder und Herr im Herzen Gottes wohnt.
So wird das scheinbare Paradox der „Freude der Trennung“ zur tiefsten Wahrheit des christlichen Glaubens: In Christus sind wir niemals allein, niemals getrennt von Gott, niemals ohne Hoffnung. Die Himmelfahrt ist das Fest der Nähe Gottes in der Ferne, der Gemeinschaft in der Trennung, der Ewigkeit in der Zeit. In diesem Geist feiern armenische Christen seit Jahrhunderten dieses große Fest – als Vorgeschmack auf die Vollendung, die uns allen verheißen ist.
Vorbereitet von Pfr. Dr. Diradur Sardaryan
Gemeindepfarrer