Das vergiftete Wort

Über die Plage des Klatschs und die Erosion der Wahrheit
Von Pfr. Dr. Diradur Sardaryan

Es beginnt selten mit einer großen Lüge. Meist mit einem kleinen Satz, einem angeblichen Zitat, einem „Man sagt, dass …“. Und doch entfaltet sich daraus eine Macht, die stärker ist als jedes Dekret, jedes Gericht, jedes Gebet: das Gerücht.

Der heilige Johannes Chrysostomos nannte den Klatsch den „Dolch des Teufels“, weil er zugleich die Zunge des Redenden, das Ohr des Hörenden und das Herz des Dritten verwundet. Was in den Jahrhunderten als moralische Mahnung galt, ist heute politische Realität geworden. In einer Zeit, in der Mikrofone, Kameras und soziale Netzwerke jede Silbe zu einem möglichen Skandal machen, ist das vergiftete Wort zu einer Waffe geworden – und die Gesellschaft zu ihrem Gefangenen.

Die neue Form des alten Lasters

Armenien erlebt derzeit, was alle Gesellschaften erleben, wenn der moralische Kompass verloren geht: Man verwechselt Transparenz mit Bloßstellung, Kontrolle mit Wahrheit, und man hält den Verrat für Mut. Diese Verwechslung ist nicht zufällig – sie folgt einer Logik, die René Girard als „mimetische Rivalität“ beschrieben hat: die Dynamik des Sündenbocks, der stellvertretend für die Ängste und Spannungen einer ganzen Gesellschaft geopfert wird.

Die Regierung und ihre verbündeten Medien haben einen gefährlichen Ton etabliert – jenen zersetzenden Unterton des Verdachts. Geistliche, Bischöfe, ja sogar der Katholikos werden zur Zielscheibe einer diffusen Kampagne aus „enthüllten Gesprächen“, „geleakten Aufnahmen“ und angeblichen „Beweisen“. Niemand weiß, ob sie echt sind – doch das spielt kaum mehr eine Rolle. Die Logik des Skandals ersetzt die Logik der Wahrheit. Gustave Le Bon erkannte bereits im 19. Jahrhundert, dass Massen nicht nach Beweisen verlangen, sondern nach Bildern und Emotionen. Das Gerücht bedient diese Sehnsucht perfekt.

Was früher das Flüstern in dunklen Gassen war, ist heute die algorithmische Massenverbreitung. Die Sünde des Klatschs hat ihren Körper gewechselt, nicht ihre Seele. Sie hat sich nur technologisch optimiert: schneller, weiter, unauslöschlicher. Die digitale Sphäre vergisst nicht – sie archiviert die Verleumdung für die Ewigkeit.

Die Theologie des Wortes

Das Wort ist im christlichen Verständnis kein neutrales Instrument, sondern eine schöpferische Kraft. „Im Anfang war das Wort“ (Johannes 1,1) – nicht: die Information, nicht das Datum, nicht der Skandal. Das bedeutet: Wer mit dem Wort umgeht, greift in die Schöpfung selbst ein. Das Wort partizipiert am göttlichen Logos, der die Welt ins Sein rief. Daher ist jedes Wort entweder schöpferisch oder zerstörerisch – tertium non datur.

Der heilige Ephrem der Syrer warnte, dass durch das Ohr – durch das Hören des falschen Wortes – der Tod in die Welt kam. Evas Dialog mit der Schlange (Genesis 3) war der erste „Fake News“-Moment der Menschheit: eine Halbwahrheit, verpackt als Fürsorge, in Wirklichkeit der Beginn der Entfremdung von Gott. Die Schlange sagte nichts vollständig Falsches – sie sagte etwas Wahres im falschen Kontext, mit der falschen Absicht. Genau das macht moderne Desinformation so wirksam: Sie arbeitet nicht mit plumpen Lügen, sondern mit raffinierten Verdrehungen.

Wenn also heute geheime Aufnahmen zirkulieren, wenn private Gespräche von Priestern oder Bischöfen öffentlich ausgeschlachtet werden, dann wiederholt sich dieselbe Szene: Der Mensch hört auf die Stimme der Versuchung und hält sie für Erkenntnis. Er glaubt, das Verborgene offenbare die Wahrheit – dabei offenbart es oft nur die Niedertracht des Enthüllers.

Doch Erkenntnis ohne Liebe wird zur Lüge. Und Wahrheit ohne Barmherzigkeit wird zum Werkzeug der Macht.

Der Mechanismus der Zerstörung

Die Entsakralisierung des Wortes führt zur Entmenschlichung der Welt – jener schrecklichen Normalität, mit der Menschen Zerstörung betreiben, ohne sich ihrer Tragweite bewusst zu sein. Denn dort, wo das gesprochene oder veröffentlichte Wort nicht mehr aus der inneren Verantwortung vor der Wahrheit kommt, sondern aus der Lust am Skandal, entsteht eine neue Form von Besessenheit – eine mediale Besessenheit. Sie frisst sich in die Gesellschaft, bis keiner mehr weiß, was wahr ist, und keiner mehr wagt, das Gute anzusprechen. Der Psychologe Daniel Kahneman würde das „Verfügbarkeitsheuristik“ nennen: Was emotional aufgeladen und häufig wiederholt wird, erscheint uns wahr – unabhängig von seiner tatsächlichen Faktizität.

Man erkennt diese Besessenheit an drei Zeichen: Sie nährt sich vom Misstrauen und verstärkt es. Sie ersetzt das Denken durch Empörung. Sie zerstört, ohne Verantwortung für das Zerstörte zu übernehmen. Das ist der Kern des Problems: In der digitalen Öffentlichkeit gibt es Täter, aber keine Verantwortlichen. Jeder kann werfen, keiner muss aufräumen.

Die Tragödie ist: In einer solchen Atmosphäre kann selbst die Wahrheit keinen Frieden mehr stiften. Denn wenn alles verdächtig ist, wird selbst das Licht für eine Täuschung gehalten. Das Vertrauen – jenes unsichtbare Band, das Gesellschaften zusammenhält – zerreißt. Was bleibt, ist eine atomisierte Masse von Einzelnen, die sich gegenseitig beäugen, aber nicht mehr begegnen können.

Die Versuchung der Macht

Das Verhältnis zwischen Staat und Kirche ist in der Geschichte Armeniens immer auch ein moralisches Drama gewesen. Die armenische Kirche war Bewahrerin der Identität durch die Jahrhunderte der Fremdherrschaft, sie war Stimme des Gewissens in Zeiten der Unterdrückung. Wenn aber eine Regierung beginnt, Geistliche zu überwachen, zu diskreditieren oder durch gezielte „Leaks“ zu demütigen (übrigens: Seit 2018 wurden zahlreiche kritische Stimmen in Armenien systematisch unter Druck gesetzt – darunter Geistliche, Oppositionspolitiker, Militärs, Wissenschaftler, Geschäftsleute, Künstler, Lehrer und Ärzte –, wenn sie sich nicht mit der Linie der Regierung deckten. Dies geschah und geschieht jetzt noch stärker durch Verhaftungen, öffentliche Diskreditierung, gezielte „Leaks“ und strafrechtliche Verfolgung, oft unter Verletzung grundlegender Menschenrechte. Weder der Westen noch internationale Menschenrechtsorganisationen haben sich dazu mit der nötigen Entschiedenheit geäußert.), dann wird der Staat selbst zum Lehrmeister des Klatschs.

Er gibt vor, das Licht zu bringen, und sät in Wirklichkeit Finsternis. Er ruft Transparenz, aber meint Entblößung. Ein solcher Staat regiert nicht mehr durch Recht, sondern durch Misstrauen. Er braucht keine Folter mehr, wenn er das Wort selbst zur Waffe gemacht hat. Michel Foucault nannte das „Bio-Macht“ – die Kontrolle nicht durch physische Gewalt, sondern durch die Kontrolle der Diskurse, durch die Definitionsmacht über Wahrheit und Normalität.

Doch eine Gesellschaft, die ihre Priester verhöhnt, verliert ihre Seele. Denn der Priester ist nicht nur ein Amtsträger, sondern das lebendige Gedächtnis des Gewissens. Er steht – im besten Fall – für eine Wahrheit, die nicht verhandelbar ist, weil sie nicht von menschlicher Macht abhängt. Wer ihn verleumdet, zerstört die letzte Instanz, die noch das Unaussprechliche beim Namen nennen kann. Nicht weil der Priester unfehlbar wäre, sondern weil sein Amt auf etwas verweist, das größer ist als er selbst.

Das Schweigen als Widerstand

Der Weg aus dieser moralischen Finsternis beginnt nicht mit Gegenschlag, sondern mit innerer Reinigung. Die heiligen Väter sagen: „Wenn du das Übel der Verleumdung nicht stoppen kannst, höre ihr wenigstens nicht zu.“ Das ist mehr als Ethik – es ist geistliche Askese. Es ist die Verweigerung, am System der Zerstörung teilzunehmen.

In einer Welt, die von Informationen übersättigt ist, wird das bewusste Schweigen (u.a. Nichtweiterleitung von Fake News, von Verleumdungen, von ungeprüften und nichtbestätigten Informationen usw.) zur höchsten Form des Widerstands. Nicht das passive Schweigen der Gleichgültigkeit, sondern das aktive Schweigen der Verweigerung. Wer sich weigert, Klatsch zu hören, schützt die Welt vor weiterer Zersetzung. Denn jede Lüge braucht ein Ohr, um zu leben. Wenn das Ohr schweigt, stirbt auch die Lüge.

Schweigen ist manchmal die stärkste Form des Protests, wie wir es oft am Beispiel Jesu sehen, wenn er beschuldigt wird. Mit diesem Schweigen ist nicht die Feigheit gemeint, die Wahrheit auszusprechen, sondern die Kraft, sich dem Druck der Masse zu entziehen. Das Schweigen, von dem hier die Rede ist, ist kein Verstummen vor der Ungerechtigkeit, sondern ein Verstummen vor dem Geschwätz, das die Ungerechtigkeit nährt.

Die Pflicht zur geistigen Hygiene

Es gibt kein freies Land ohne Wahrheit. Aber Wahrheit ist kein Produkt der Macht, sondern Frucht der Lauterkeit. Sie verlangt die Demut, zu sagen: „Ich weiß es nicht“ – wenn man etwas nicht weis. Sie verlangt die Geduld, zu schweigen, wenn Klarheit fehlt. Sie verlangt den Mut, gegen den Strom der allgemeinen Empörung zu schwimmen.

Geistige Hygiene bedeutet heute: bewusst auswählen, welchen Stimmen wir Zugang zu unserem Inneren gewähren. Jeder Klick, jedes „Teilen“, jedes empörte Kommentar ist eine Stimme, die wir verstärken. Wir sind nicht nur Empfänger von Information – wir sind ihre Verstärker oder ihre Verweigerer. Diese Verantwortung können wir nicht delegieren.

Die Kirche, auch in Armenien, wird ihre geistliche Autorität nicht durch Gegenschlag verteidigen, sondern durch Reinheit des Wortes. Indem sie sich weigert, an der Kakophonie teilzunehmen, bleibt sie Stimme des Ewigen inmitten des Lärms. Das verlangt Geduld – jene gefährdete Tugend einer beschleunigten Zeit. Es verlangt auch die Bereitschaft, missverstanden zu werden. Denn wer nicht mitschreit, wird schnell verdächtigt.

Der verstorbene katholische Papst Franziskus sagte: Klatsch ist „Plage für das Leben der Menschen und der Gemeinschaften“, weil er nie verbessert, sondern nur zerstört. Was für die Kirche gilt, gilt auch für die Nation. Eine Gesellschaft, die im Klatsch erstickt, verliert die Fähigkeit zur Unterscheidung – jene kardinale Tugend, die zwischen Wichtigem und Unwichtigem, zwischen Wahrheit und Schein, zwischen Gerechtigkeit und Rache unterscheiden kann.

Wenn Armenien überleben will – nicht nur als geographische Einheit, sondern als geistige Gemeinschaft –, muss es lernen, seine Ohren zu reinigen. Denn aus dem Ohr kommt der Glaube, wie Paulus schreibt (Römer 10,17) – oder das Gift. Und aus dem Wort wächst entweder das Reich Gottes oder der Abgrund der Verleumdung.

Die Wahl liegt nicht bei den Mächtigen. Sie liegt bei jedem Einzelnen, der entscheidet: Höre ich zu? Gebe ich weiter? Oder schweige ich – und bewahre damit einen Raum für die Wahrheit?