Die Wirklichkeit des Todes Gottes

Wort am Avag Urbat (Karfreitag)

Von Pfr. Dr. Diradur Sardaryan

Heute stehen wir vor der härtesten Wirklichkeit unseres Glaubens: Gottessohn im Grab. Nicht als fromme Meditation, nicht als religiöses Symbol, sondern als brutale Tatsache. Christus tot. Sein Leib ins Grab gelegt. Der Stein davor gewälzt. Das ist kein Bild, keine Metapher – es ist ein zentraler Teil unseres Glaubens.

Die Nacktheit des Grabes

Der Heilige Evangelist Matthäus berichtet uns nüchtern: „Gegen Abend kam ein reicher Mann aus Arimathäa namens Josef; auch er war ein Jünger Jesu. Er ging zu Pilatus und bat um den Leichnam Jesu. Da befahl Pilatus, ihm den Leichnam zu überlassen. Josef nahm den Leichnam und hüllte ihn in ein reines Leinentuch. Dann legte er ihn in ein neues Grab, das er für sich selbst in einen Felsen hatte hauen lassen. Er wälzte einen großen Stein vor den Eingang des Grabes und ging weg. Auch Maria aus Magdala und die andere Maria waren dort; sie saßen dem Grab gegenüber.“ (Matthäus 27, 57-61)

Es gibt eine merkwürdige Versuchung in der Christenheit, schnell über diesen Tag hinwegzueilen, um zur Auferstehung zu gelangen. Als könnten wir den Karsamstag überspringen, um zum Ostersonntag zu kommen. Als wäre der tote Christus nur ein unangenehmes Zwischenspiel auf dem Weg zum triumphierenden Christus.

Aber wir können das Grab nicht umgehen. Wir müssen durch es hindurch. Das Grab Christi ist kein Durchgangsraum, den wir eilig durchschreiten. Es ist ein Ort, an dem wir verweilen müssen. Ein Ort, an dem wir lernen müssen, was es bedeutet, dass Gott selbst den Tod auf sich nimmt.

Der Gerechte im Tod

Die Weisheit Salomos zeigt uns mit erschreckender Klarheit die Logik der Welt: „Lasst uns den Gerechten bedrängen, denn er ist uns unbequem und steht unserem Tun im Wege… Zu einem ehrlosen Tod wollen wir ihn verurteilen.“

Diese Logik ist nicht veraltet. Sie ist die Logik unserer Welt, die das Kreuz Christi zu einem religiösen Symbol machen will, um seiner Wirklichkeit zu entgehen. Die Logik einer Christenheit, die den auferstandenen Christus feiern will, ohne sich dem toten Christus zu stellen.

Der tote Christus ist unbequem. Er stellt unser Tun in Frage. Er konfrontiert uns mit der Wirklichkeit des Todes – nicht als abstraktes Schicksal, sondern als konkretes Ergebnis menschlicher Entscheidungen. Menschlicher Sünde. Unserer Sünde.

Der Gerechte im Tod zeigt die Ungerechtigkeit der Welt. Nicht nur die Ungerechtigkeit derer, die Christus ans Kreuz brachten, sondern auch unsere eigene Ungerechtigkeit, unsere Teilnahme am Unrecht dieser Welt, unsere Teilhabe an den Strukturen, die den Gerechten zum Tod verurteilen.

Christus im Reich des Todes

Petrus schreibt: „Denn auch Christus hat einmal für die Sünden gelitten, der Gerechte für die Ungerechten, damit er euch zu Gott führte; er ist getötet nach dem Fleisch, aber lebendig gemacht nach dem Geist. In ihm ist er auch hingegangen und hat gepredigt den Geistern im Gefängnis.“

Hier ist die erschütternde Tatsache, dass Christus sogar in den Tod hinein seinen Weg der Liebe fortsetzt. Dass er in das Reich der Toten eingeht, um auch dort Gottes Gegenwart zu sein.

Es gibt keinen Ort, keine Tiefe, keinen Abgrund, in den Christus nicht hinabgestiegen wäre. Das Reich des Todes, das letzte Gefängnis des Menschen, wird zur Stätte der Gegenwart Gottes.

Dies ist keine fromme Schwärmerei. Es ist die härteste Wirklichkeit des christlichen Glaubens: Gott geht in den Tod, um dort bei uns zu sein. Er nimmt den Tod auf sich, nicht um ihn zu umgehen, sondern um ihn von innen zu überwinden.

Der Preis der Nachfolge

Das Grab Christi konfrontiert uns mit der Frage nach unserer eigenen Nachfolge. Wo stehen wir angesichts dieses Todes?

Josef von Arimathäa, dieser reiche Mann, von dem wir kaum etwas wissen, tritt in diesem Moment hervor. Er geht zu Pilatus und bittet um den Leib Jesu – ein gefährlicher Akt in einer gefährlichen Zeit. Er gibt Christus sein eigenes Grab – eine Geste der Liebe, die ihn sichtbar mit dem Gekreuzigten verbindet.

Und die Frauen, Maria Magdalena und die andere Maria, sie „saßen dem Grab gegenüber“. Sie bleiben, wo alle anderen fliehen. Sie harren aus in der Wüste des Todes, ohne zu wissen, was der dritte Tag bringen wird.

Hier zeigt sich die Wirklichkeit der Nachfolge: nicht in frommen Gefühlen, nicht in religiösen Übungen, sondern in der konkreten Entscheidung, bei Christus zu bleiben – auch im Tod.

Und wir? Wo stehen wir? Sind wir bereit, das Kreuz und das Grab als unsere Wirklichkeit anzunehmen? Oder wollen wir einen Christus ohne Kreuz, eine Auferstehung ohne Tod, einen Glauben ohne Nachfolge?

Die Wahrheit des Karsamstags

Die Wahrheit des Karsamstags ist hart, aber befreiend: Der Tod ist real. Der Tod Christi ist real. Aber Christus ist im Tod nicht allein. Und wenn wir sterben, sind wir nicht allein. Christus ist dort.

Es gibt keinen Ort, wo Gott nicht ist – nicht einmal das Grab. Es gibt keine Tiefe, in die Christus nicht hinabgestiegen wäre. Es gibt keinen Abgrund, in dem wir allein wären.

Das ist der Trost des Karsamstags: Nicht die Verleugnung des Todes, sondern die Gewissheit, dass Christus auch dort bei uns ist. Nicht die Verharmlosung des Todes, sondern die Überwindung des Todes von innen.

Für die Christen in unserer Zeit, die in einer Welt leben, die den Tod verdrängt, ist diese Botschaft unbequem. Wir haben uns eine Religion geschaffen, die uns das Leben verschönern soll, die uns vor der Härte der Wirklichkeit bewahren soll. Wir haben uns einen Christus gemacht, der uns in unserer Bequemlichkeit bestätigt.

Aber der wahre Christus ist der, der im Grab liegt. Der wahre Glaube ist der, der diesem Christus bis ins Grab folgt. Die wahre Hoffnung ist die, die inmitten des Todes auf das Leben wartet – nicht als fromme Illusion, sondern als Vertrauen auf den Gott, der selbst im Tod gegenwärtig ist.

Die Entscheidung des Glaubens

Heute stehen wir vor der Entscheidung: Wollen wir einen billigen Glauben, der uns das Leiden erspart? Oder wollen wir den teuren Glauben, der mit Christus den Weg des Kreuzes und des Grabes geht?

Dies ist keine abstrakte Frage. Sie stellt sich konkret in unserem Alltag:

  • Wo wir gerufen sind, für die Wahrheit zu leiden, statt der Lüge nachzugeben
  • Wo wir gerufen sind, mit den Leidenden zu leiden, statt im Wohlstand zu verharren
  • Wo wir gerufen sind, den Tod als Wirklichkeit anzunehmen, statt ihn zu verdrängen

Die Antwort auf diese Frage entscheidet darüber, ob unser Glaube echt ist oder nur eine religiöse Verbrämung unseres alten Lebens.

Das Warten auf den dritten Tag

Doch in aller Härte bleibt die Hoffnung. Nicht als fromme Stimmung, sondern als nüchterne Gewissheit: Der dritte Tag wird kommen. Nicht weil der Tod nicht real wäre, sondern weil Christus real im Tod ist.

Heute stehen wir zwischen Kreuz und Auferstehung. Wir warten. Nicht in passiver Resignation, sondern in aktiver Bereitschaft. Wir warten als Menschen, die wissen, dass Christus auch im Tod der Herr ist. Wir warten als Menschen, die bereit sind, mit Christus zu sterben, um mit ihm zu leben.

Der Karsamstag lehrt uns das geduldige Warten. Er lehrt uns, dass Gottes Wege durch das Leiden zum Leben führen. Er lehrt uns, dass die Auferstehung nicht die Verneinung des Todes ist, sondern seine Überwindung von innen.

In diesem Warten liegt der tiefste Sinn des christlichen Glaubens: Nicht die Flucht vor dem Tod, sondern die Gemeinschaft mit dem Christus, der den Tod auf sich nimmt, um ihn zu überwinden.

Lassen wir uns nicht täuschen von einer Frömmigkeit, die den Karsamstag überspringen will. Lassen wir uns nicht verführen von einer Theologie, die den Tod verharmlost. Lassen wir uns nicht abbringen von dem Weg, den Christus selbst gegangen ist – durch den Tod zum Leben.

Christus im Grab – das ist unsere Hoffnung. Nicht trotz des Todes, sondern mitten im Tod. Nicht jenseits des Todes, sondern im Tod selbst.

Das ist die Wahrheit, vor der wir heute stehen. Die Wahrheit, die uns frei macht, wenn wir sie annehmen. Die Wahrheit, die uns das Leben schenkt, wenn wir bereit sind, mit Christus zu sterben.

Amen.