Verrat, Leiden und Kreuz
Wort am Avag Hingshabti (Gründonnerstag)
Von Pfr. Dr. Diradur Sardaryan
„Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.“ Dieser Satz steht über allem, was wir in diesen Tagen bedenken. Kein frommer Zuspruch, keine religiöse Formel, sondern die nüchterne Beschreibung dessen, was am Kreuz geschieht.
Das Kreuz ist kein Symbol, keine Metapher, sondern ein Stück brutaler Wirklichkeit. Ein Mensch wird verraten, verhört, gefoltert, getötet. Und in diesem Menschen begegnet uns Gott selbst.
Der Verrat und unsere Teilnahme daran
Das Geschehen beginnt mit dem Verrat. Jesus sitzt mit seinen Jüngern zu Tisch. Er weiß, dass einer ihn verraten wird. Und er sagt es: „Einer unter euch wird mich verraten.“
Wir sind schnell dabei, uns über Judas zu erheben. Aber wer von uns kann behaupten, er habe Christus nicht auch schon verraten? Nicht durch dreißig Silberlinge, sondern durch unser Schweigen, wo wir hätten reden müssen. Durch unsere Kompromisse mit der Welt. Durch unsere Bequemlichkeit, die uns abhält, den unbequemen Weg der Nachfolge zu gehen.
Und doch nimmt Jesus den Verräter mit an seinen Tisch. Er gibt ihm Anteil an der Gemeinschaft. Er wäscht ihm die Füße. Das ist keine sentimentale Geste. Es ist die radikale Durchbrechung der Logik dieser Welt: Freund und Feind, treu und untreu – diese Kategorien haben ihre Gültigkeit verloren, wo Christus am Werk ist.
Es ist die Konfrontation mit der Wahrheit über uns selbst: Wir alle sitzen als potenzielle Verräter mit am Tisch. Wir alle brauchen die Fußwaschung, die Vergebung, die Christus uns schenkt. Nicht als religiöse Versicherung, sondern als tägliche Wirklichkeit.
Das Leiden und unsere Flucht davor
Von Gethsemane führt der Weg nach Golgotha. Der Weg ist gezeichnet von Leiden, das in seiner Brutalität nichts Erbauliches hat. „Meine Seele ist betrübt bis in den Tod,“ betet Jesus.
Wir leben in einer Welt, die das Leiden um jeden Preis vermeiden will. Wir nehmen Tabletten gegen Schmerzen, wir versichern uns gegen alle Risiken, wir halten uns fern von allem, was uns erschüttern könnte. Wir haben eine Religion geschaffen, die uns Wohlbefinden verspricht. „Gott will, dass es dir gut geht“ – so lautet das Evangelium unserer Zeit.
Doch Christus geht den entgegengesetzten Weg. Er flieht nicht vor dem Leiden. Er geht ihm entgegen. Nicht weil er das Leiden sucht, sondern weil er den Willen des Vaters sucht. Und dieser Wille führt mitten durch das Leiden hindurch.
Die Nachfolge Christi bedeutet, mit ihm den Weg zu gehen – auch durch das Leiden hindurch. Nicht als fromme Übung, nicht als religiöse Leistung, sondern als Teilhabe an seinem Leben. Wo die Kirche das Leiden aus ihrer Verkündigung streicht, verkündigt sie nicht mehr Christus, sondern einen Götzen.
Die Geißelung, die Dornenkrone, der Spott – dies alles ist nicht eine tragische Episode, die wir schnell hinter uns lassen sollten, um zur Auferstehung zu kommen. Es ist die Offenbarung Gottes selbst: „Siehe, welch ein Mensch!“ In dem geschundenen Christus sehen wir den wahren Menschen und den wahren Gott.
Das Kreuz und der Preis der Nachfolge
„Sie kreuzigten ihn.“ Diesen Satz schreiben die Evangelisten ohne Ausschmückung, ohne Pathos. Die nackte Tatsache steht da: Gott selbst erleidet den Tod am Kreuz.
Wir haben das Kreuz zum Schmuckstück gemacht, zum religiösen Symbol, zur Dekoration. Wir tragen es um den Hals, wir hängen es an die Wand, wir stellen es auf den Altar. Aber haben wir verstanden, was es bedeutet?
Das Kreuz bedeutet: Gott geht in den Tod, um bei den Sterbenden zu sein. Gott nimmt Schuld auf sich, um bei den Schuldigen zu sein. Gott erleidet Verlassenheit, um bei den Verlassenen zu sein. Nicht als Zuschauer, nicht als mitleidiger Beobachter, sondern als einer, der mittendrin ist.
„Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Dies ist kein sentimentaler Ausspruch. Es ist die Gewissheit dessen, der weiß, dass Gott auch dort noch handelt, wo Menschen versagen, wo sie morden, wo sie Gott selbst ans Kreuz schlagen.
In der Kirche beten wir: „Der du für uns gekreuzigt wurdest, erbarme dich unser.“ Das ist kein leeres Ritual, sondern das Bekenntnis, dass wir an diesem Kreuz beteiligt sind – als Täter und als Erlöste.
Das Kreuz stellt alle Maßstäbe auf den Kopf: Schwäche wird zur Stärke, Niederlage zum Sieg, Tod zum Leben, Hingabe zur Erfüllung. Aber nicht als romantische Idee, sondern als harte Wirklichkeit des Glaubens.
Die Entscheidung vor dem Kreuz
Angesichts des Kreuzes gibt es keine Neutralität. Wir können nicht unbeteiligte Zuschauer bleiben. Wir müssen uns entscheiden, wo wir stehen wollen: Bei den Spöttern, bei den gleichgültigen Soldaten, bei den fliehenden Jüngern? Oder bei Maria, bei Johannes, bei den Frauen unter dem Kreuz?
Oder noch persönlicher: Wollen wir beim sterbenden Schächer sein, der in seiner letzten Stunde erkennt: „Dieser hat nichts Unrechtes getan“, und der sich an Jesus wendet mit der Bitte: „Gedenke an mich“?
Nachfolge bedeutet, diese Entscheidung täglich neu zu treffen. Nicht als einmaliger religiöser Akt, sondern als ständige Hinwendung zu dem gekreuzigten Christus, als ständige Bereitschaft, mit ihm zu sterben, um mit ihm zu leben.
Die Entscheidung stellt sich in den konkreten Situationen unseres Alltags:
- Wo wir unsere eigene Sicherheit aufgeben müssen, um andere zu schützen
- Wo wir unseren Wohlstand teilen müssen mit denen, die nichts haben
- Wo wir unsere Bequemlichkeit opfern müssen, um der Wahrheit zu dienen
- Wo wir unsere Ehre preisgeben müssen, um Christus zu ehren
Die Stille unter dem Kreuz
„Es war um die sechste Stunde, und es kam eine Finsternis über das ganze Land… und der Vorhang des Tempels riss mitten entzwei.“
Vor dem Geheimnis des Kreuzes verstummen alle Worte. Nichts bleibt zu sagen. Kein religiöses Geschwätz, keine fromme Deutung kann fassen, was hier geschieht: Gott selbst stirbt für seine Geschöpfe.
In dieser Stille unter dem Kreuz wird die Wahrheit offenbar: „Gott ist Liebe.“ Nicht als theologische Formel, sondern als das Ereignis, das die Welt verändert hat und weiter verändert: Gottes Tod für uns.
Was ist unsere Antwort auf dieses Ereignis? Nicht fromme Gefühle, nicht religiöse Übungen, sondern die konkrete Nachfolge: zu erkennen, dass dieser Tod für uns geschehen ist, und unser Leben danach auszurichten.
Wo die Kirche vom Kreuz spricht, ohne zur Nachfolge zu rufen, verkündigt sie nicht Christus, sondern eine billige Gnade, die nicht rettet.
Wo die Kirche zur Nachfolge ruft, ohne vom Kreuz zu sprechen, verkündigt sie nicht Christus, sondern ein moralisches Gesetz, das niemand erfüllen kann.
Nur wo beides zusammenkommt – das Kreuz und die Nachfolge, die Gnade und der Gehorsam, der Tod Christi und unser Sterben mit ihm –, nur da wird das Evangelium in seiner ganzen Kraft verkündigt.
Der Weg durch Verrat und Leiden zur Auferstehung
Liebe Gemeinde, wir gehen in diesen Tagen den Weg mit Christus – durch Verrat und Leiden zum Kreuz. Aber wir tun es in der Gewissheit, dass dieser Weg nicht im Tod endet, sondern in der Auferstehung.
Doch es gibt keinen Weg zur Auferstehung, der am Kreuz vorbeiführt. Es gibt keine Nachfolge ohne Leiden, keine Hoffnung ohne Verzweiflung, kein Leben ohne Sterben. Wer mit Christus leben will, muss mit ihm sterben.
Das ist die harte, nüchterne Wahrheit des Evangeliums. Keine religiöse Verbrämung kann sie mildern. Keine fromme Schwärmerei kann sie umgehen. Keine theologische Spekulation kann sie auflösen.
Aber in dieser Wahrheit liegt die einzige Hoffnung für diese Welt: dass Gott in Christus den Tod besiegt hat, indem er ihn auf sich nahm. Dass er die Sünde überwunden hat, indem er sie trug. Dass er die Gottverlassenheit durchbrochen hat, indem er sie durchlitt.
Dieses Geheimnis zu glauben, zu leben, zu bezeugen – dazu sind wir berufen. Nicht als religiöse Übung, nicht als frommes Gefühl, sondern als Lebensform in der Nachfolge des Gekreuzigten.
„Christus wurde für uns gekreuzigt!“ Dies ist nicht nur ein Bekenntnis, es ist eine Wirklichkeit, die unser Leben bestimmt – heute und jeden Tag.
Amen.