Predigt zu Lukas 4,18–19
„Der Geist des Herrn ruht auf mir“
Predigt von Pfr. Dr. Diradur Sardaryan,
gesprochen am 19. Oktober 2025 in der Rosenbergkirche.
„Der Geist des Herrn ruht auf mir; / denn er hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, / damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde / und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe. Dann schloss er die Buchrolle, gab sie dem Synagogendiener und setzte sich. Die Augen aller in der Synagoge waren auf ihn gerichtet. 21 Da begann er, ihnen darzulegen: Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt.“ (Lukas 4,18–19)
Liebe Schwestern und Brüder,
heute hören wir von einem besonderen Moment im Leben unseres Herrn Jesus Christus. Er kehrt zurück nach Nazareth, in seine Heimatstadt. Dort, wo man ihn von Kindesbeinen an kannte, wo die Menschen ihn aufwachsen sahen – als Sohn des Zimmermanns, als einen von ihnen.
An einem Sabbat geht er in die Synagoge. Man reicht ihm die Schriftrolle des Propheten Jesaja. Jesus liest die uralten Worte der Verheißung – Worte voller Hoffnung, die sein Volk seit Jahrhunderten bewahrt und weitergegeben hat. Dann rollt er die Schrift zusammen, gibt sie zurück und sagt einen Satz, der alles verändert:
„Heute hat sich dieses Wort der Schrift erfüllt.“
Mit diesem „Heute“ beginnt etwas Neues. Das, worauf Generationen gewartet haben, ist nicht mehr ferne Zukunft – es ist Gegenwart. Gott ist da. Sein Geist wirkt – heute, hier, mitten unter uns.
1. Der Geist, der heilt und erneuert
„Der Geist des Herrn ruht auf mir“ – das ist kein abstraktes Konzept. Es ist die lebensspendende Kraft Gottes selbst, die schon am Anfang der Schöpfung über dem Wasser schwebte. Dieser Geist bringt Leben, wo Tod war. Er bringt Trost, wo Verzweiflung herrscht. Er bringt Frieden, wo Unruhe ist.
Jesus Christus macht uns deutlich: Die Kraft des Geistes ist nicht reserviert für besondere Menschen oder besondere Orte. Sie will auch auf uns ruhen.
Wir neigen manchmal dazu zu denken, wir müssten erst bestimmte Voraussetzungen erfüllen, bevor Gott in uns wirken kann. Wir müssten frömmer sein, stärker im Glauben, moralisch untadeliger. Aber Jesus zeigt uns das Gegenteil: Der Geist Gottes kommt gerade zu denen, die wissen, dass sie ihn brauchen.
Er kommt zu den „Armen“ – und damit meint Jesus nicht nur materielle Armut. Er meint die Armut des Herzens: jene innere Leere, die uns sagen lässt: „Ich schaffe es nicht allein. Ich brauche die Hilfe Gottes.“ Das ist keine Schwäche – das ist die Tür, durch die Gottes Kraft in unser Leben eintritt.
2. Gesalbt – berührt von Gottes Liebe
„Er hat mich gesalbt“ – was bedeutet das? In biblischer Zeit war die Salbung ein heiliger Akt. Könige wurden gesalbt, Priester, Propheten. Die Salbung war das sichtbare Zeichen: Gott hat diesen Menschen erwählt, berührt, für einen besonderen Dienst bestimmt.
Bei Jesus Christus war es keine äußerliche Zeremonie – es war die Liebe Gottes selbst, die auf ihm ruhte, die ihn erfüllte und durch ihn wirkte.
Und hier kommt die große, oft übersehene Wahrheit: Diese Salbung gilt nicht nur für den Herrn. Durch unsere Taufe sind auch wir gesalbt worden. Gott hat jeden von uns berührt und gesagt: „Du bist mein geliebtes Kind. Ich habe dich erwählt. Ich will dich gebrauchen, um mein Licht in diese Welt zu tragen.“
Das verändert alles. Wir sind nicht nur Zuschauer im Reich Gottes – wir sind Mitarbeiter. Nicht weil wir so großartig sind, sondern weil Gott uns in seiner Gnade beruft.
Diese Berufung bedeutet nicht, dass wir Wunder wirken müssen oder große Reden halten sollen. Sie bedeutet, dass wir in unserem Alltag – dort, wo wir leben und arbeiten – Zeichen der Liebe Gottes sein dürfen. Ein gutes Wort zur rechten Zeit. Ein Gebet für jemanden in Not. Eine Hand, die hilft. Ein Ohr, das zuhört.
Wir sind gesandt – nicht als Richter, die andere verurteilen, sondern als Tröster, die aufbauen. Nicht um zu klagen über den Zustand der Welt, sondern um Hoffnung zu säen, wo Resignation herrscht.
3. Befreiung – die unsichtbaren Ketten sprengen
Jesus sagt: „Ich bin gesandt, den Gefangenen Freiheit zu verkünden.“
Zunächst denken wir dabei vielleicht an Menschen hinter Gittern, an politische Gefangene, an physische Unfreiheit. Und gewiss, kümmert sich Jesus Christus auch um diese Form der Gefangenschaft.
Aber er meint mehr. Er meint all das, was uns innerlich bindet und gefangen hält: die Angst, die uns lähmt; die Schuld, die uns niederdrückt; die Bitterkeit, die unser Herz verhärtet; der Stolz, der uns von anderen trennt; die Sorgen, die uns den Schlaf rauben.
Manchmal sind wir äußerlich völlig frei – wir können gehen, wohin wir wollen, tun, was wir möchten – und sind doch innerlich gefangen. Gefangen in Gedankenmustern, die uns klein machen. Gefangen in Beziehungen, die uns verletzen, aber die wir nicht loslassen können. Gefangen in Süchten – nicht nur nach Substanzen, sondern nach Anerkennung, nach Erfolg, nach Perfektion.
Jesus möchte diese unsichtbaren Ketten sprengen. Er möchte, dass wir wieder atmen können, lachen können, lieben können – frei als Kinder Gottes.
Wenn du also heute mit einer Last hierher gekommen bist – mit Schuld, die du nicht ablegen kannst, mit Angst, die dich bedrängt, mit Traurigkeit, die dich lähmt – dann höre: Gott will dich nicht verurteilen. Er will dich frei machen.
Die Frage ist nicht: „Bin ich gut genug?“ Die Frage ist: „Bin ich bereit, mich von ihm befreien zu lassen?“
4. Das „Heute“ Gottes
Dann kommt dieser gewaltige, alles entscheidende Satz: „Heute hat sich dieses Wort erfüllt.“
Heute. Nicht gestern. Nicht irgendwann in ferner Zukunft. Heute.
Gott redet nicht nur über die Vergangenheit, über die großen Taten, die er vollbracht hat. Er redet nicht nur über die Zukunft, über den Himmel, der uns erwartet. Er redet über das Jetzt.
Jedes Mal, wenn wir das Evangelium hören, jedes Mal, wenn wir im Gottesdienst zusammenkommen, jedes Mal, wenn wir die Bibel aufschlagen – spricht Gott in unser Leben hinein: „Ich bin hier. Ich habe dich nicht vergessen. Ich will dich erneuern – heute.“
Wir neigen dazu zu warten. Wir warten darauf, dass Gott irgendwann eingreift, dass sich die Umstände ändern, dass wir endlich bereit sind. Aber vielleicht wartet Gott darauf, dass wir jetzt glauben, dass wir jetzt vertrauen, dass wir jetzt den ersten Schritt tun.
Denn wenn wir ihm vertrauen, wenn wir uns ihm öffnen, dann beginnt das „Heute“ seines Heils genau dort, wo wir stehen – in unserem Alltag, in unseren Beziehungen, in unserem Herzen.
Das „Heute“ Gottes durchbricht unsere Vorstellungen von „noch nicht“ und „zu spät“. Es sagt: Jetzt ist die Zeit der Gnade. Jetzt ist der Moment, in dem Veränderung möglich ist.
5. Die Frohe Botschaft für uns
„Den Armen die Frohe Botschaft bringen“ – was ist diese „frohe Botschaft“?
Sie ist einfach – und doch unendlich tief: Gott ist mit uns, Er ist unter uns. Er hat uns das Leben geschenkt.
Er sieht dich, auch wenn du dich klein und unbedeutend fühlst. Er liebt dich, auch wenn du dich schuldig fühlst und denkst, du hättest seine Liebe nicht verdient. Er gebraucht dich, auch wenn du meinst, du seist nicht stark genug, nicht klug genug, nicht fromm genug.
Die Frohe Botschaft ist keine Moralpredigt. Sie ist keine Liste von Regeln, die wir befolgen müssen. Sie ist die Zusage: Du bist geliebt – bedingungslos, für immer, ohne Wenn und Aber.
Und aus dieser Liebe heraus können wir leben. Nicht aus Angst vor Strafe, nicht aus dem Druck, es allen recht machen zu müssen, sondern aus der Liebe heraus, in Dankbarkeit und Freude.
Der Geist des Herrn ruht auf dir, wenn du einem Menschen vergibst, der dich verletzt hat. Er ruht auf dir, wenn du jemanden aufrichtest, der am Boden liegt. Er ruht auf dir, wenn du betest – auch wenn du keine großen Worte findest, sondern nur ein Seufzen, ein „Herr, hilf mir.“
Jede kleine Geste der Liebe ist ein Zeichen des Reiches Gottes. Jedes Wort der Ermutigung trägt den Geist Christi in sich. Jede Tat der Barmherzigkeit erfüllt die Mission, zu der Jesus uns ruft.
6. Der Blick auf Jesus
Lukas erzählt uns: Nachdem Jesus diese Worte gesprochen hatte, „waren alle Augen auf ihn gerichtet.“
Auch heute richten wir unsere Augen auf ihn – auf den, der gekommen ist, um zu heilen, nicht zu verurteilen; um zu trösten, nicht zu drohen; um aufzurichten, nicht niederzudrücken.
In Jesus sehen wir, wie Gott wirklich ist. Nicht fern und unnahbar, sondern nah und menschlich. Nicht streng und unbarmherzig, sondern voller Gnade und Wahrheit.
Wenn wir auf Jesus schauen, dann sehen wir, dass Gott auf unserer Seite ist. Dass er unser Leben ernst nimmt mit all seinen Freuden und Schmerzen. Dass er uns nicht allein lässt, sondern mitgeht – durch dunkle Täler und auf hohen Bergen, in guten Zeiten und in schweren Stunden.
Liebe Gemeinde,
vielleicht dürfen wir heute mit neuen Augen sehen: dass Gott nicht irgendwo weit weg im Himmel thront, während wir uns hier unten abmühen. Sondern dass sein Geist mitten in unserem Alltag wirkt – in unseren Händen, wenn wir anpacken; in unseren Worten, wenn wir trösten; in unserem Herzen, wenn wir lieben.
„Der Geist des Herrn ruht auf mir…“
Möge dieses Wort heute auch über dir wahr werden. Mögest du spüren, dass Gott dich berührt, dass er dich erneuert, dass er dich sendet – nicht irgendwohin, sondern genau dorthin, wo du bist, um dort sein Licht zu sein.
Und mögest du erfahren, dass sein „Heute“ kein ferner Traum ist, sondern Wirklichkeit – hier, jetzt, in diesem Augenblick.
Amen.
Der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

