Von der Schöpfung zur Auferstehung:
Fasten als Gerechtigkeit –
Die wahre Bedeutung des Verzichts
2. Woche, Donnerstag (13. März 2025):
Biblische Lesung für den Tag:
Jesaja 58:6-10; Matthäus 6:16-18
Vom rituellen zum prophetischen Fasten
„Ist das ein Fasten, wie ich es liebe, ein Tag, an dem der Mensch sich nur kasteit? Wenn er seinen Kopf hängen lässt wie eine Binse und sich mit Sack und Asche bedeckt? Nennst du das ein Fasten und einen Tag, der dem HERRN gefällt?“ (Jes 58,5)
Mit dieser erschütternden Frage durchbricht der Prophet Jesaja die religiöse Selbstsicherheit Israels. Seine Worte bergen eine fundamentale Kritik an jener Frömmigkeit, die sich in äußeren Ritualen erschöpft, während sie das Wesen der göttlichen Forderung verfehlt. Dieser prophetische Text markiert einen Wendepunkt im biblischen Verständnis des Fastens – einen Übergang vom kultischen Ritual zur ethischen Verantwortung, von der religiösen Pflichterfüllung zur existenziellen Umkehr des ganzen Menschen.
In der Tradition der Armenischen Kirche wird diese prophetische Dimension des Fastens besonders betont. Die liturgischen Texte und Hymnen der Fastenzeit greifen immer wieder die Thematik des wahren Fastens auf, wie es bereits in den alttestamentlichen Propheten und dann im Evangelium verkündet wurde. Das Fasten wird nicht als isolierte asketische Übung verstanden, sondern als umfassende Neuausrichtung des Lebens auf Gott und den Nächsten.
Nachdem wir in den vorherigen Tagen über den Glaubensweg Abrahams und die Umkehr des verlorenen Sohnes nachgedacht haben, betrachten wir heute die soziale und ethische Dimension unserer Fastenpraxis. Die Frage, die uns durch diesen Tag begleitet, lautet: Ist unser Fasten nur ein äußerlicher Verzicht oder ein Weg zu tieferer Gerechtigkeit?
Die dreifache Bedeutung des wahren Fastens
Im Licht der prophetischen Verkündigung und der christlichen Tradition entfaltet sich eine dreifache Bedeutung des Fastens, die weit über den bloßen Nahrungsverzicht hinausgeht:
1. Fasten als Befreiung von Egozentrismus
Die erste Bedeutungsebene des Fastens betrifft unsere Beziehung zu uns selbst. Wenn wir auf etwas verzichten, das uns wichtig und angenehm ist, durchbrechen wir die Illusion der Selbstgenügsamkeit. Der heilige Basilius der Große (ca. 330-379) reflektiert in seinen Homilien über das Fasten, dass der eigentliche Sinn nicht in der körperlichen Entbehrung liegt, sondern in der Überwindung der Selbstfixierung.
Die Askese ist in der östlichen Tradition kein Selbstzweck, sondern ein pädagogischer Weg. Der freiwillige Verzicht auf bestimmte Speisen oder Gewohnheiten soll den Menschen sensibilisieren für seine tieferen Abhängigkeiten und Bindungen. Im Fasten erfährt er seine kreatürliche Begrenztheit und wird gerade darin frei für die Begegnung mit Gott und dem Nächsten.
2. Fasten als sozialer Auftrag
Die zweite Dimension des Fastens, die besonders in der prophetischen Tradition betont wird, ist seine soziale Ausrichtung: „Das ist ein Fasten, wie ich es liebe: die Fesseln des Unrechts zu lösen, die Stricke des Jochs zu entfernen, die Versklavten freizulassen, jedes Joch zu zerbrechen, an die Hungrigen dein Brot auszuteilen, die obdachlosen Armen ins Haus aufzunehmen…“ (Jes 58,6-7).
Dieser Text revolutioniert das Verständnis des Fastens, indem er es unmittelbar mit sozialer Gerechtigkeit verknüpft. Das wahre Fasten, das Gott gefällt, manifestiert sich nicht primär im Nahrungsverzicht, sondern in konkreten Akten der Solidarität mit den Armen und Unterdrückten. Der Prophet entlarvt damit jene Frömmigkeit, die sich in ritueller Reinheit genügt, während sie die Nöte der Mitmenschen ignoriert.
In der armenischen Tradition ist dieser Zusammenhang von Fasten und Barmherzigkeit tief verwurzelt. Die Kirchenväter betonen immer wieder, dass die durch das Fasten eingesparten Ressourcen den Bedürftigen zugutekommen sollen. So wird das Fasten zu einem Akt der Umverteilung und sozialen Gerechtigkeit.
3. Fasten als spirituelle Reinigung
Die dritte Dimension des Fastens betrifft die Beziehung zu Gott. Jesus warnt im Evangelium vor einem ostentativen Fasten, das auf menschliche Anerkennung zielt: „Wenn ihr fastet, macht kein finsteres Gesicht wie die Heuchler. Sie geben sich ein trübseliges Aussehen, damit die Leute merken, dass sie fasten.“ (Mt 6,16)
Dem äußerlichen Fasten der Pharisäer stellt Jesus ein verborgenes, auf Gott ausgerichtetes Fasten gegenüber: „Wenn du fastest, salbe dein Haar und wasche dein Gesicht, damit die Leute nicht merken, dass du fastest, sondern nur dein Vater, der auch das Verborgene sieht; und dein Vater, der das Verborgene sieht, wird es dir vergelten.“ (Mt 6,17-18)
Diese Verinnerlichung des Fastens entspricht der spirituellen Tiefe, die auch die armenische Tradition kennzeichnet. Das Fasten wird nicht als äußere Leistung verstanden, sondern als innere Reinigung, die den Menschen für die Begegnung mit Gott öffnet. Der Verzicht auf materielle Genüsse soll die Sensibilität für die geistliche Wirklichkeit schärfen und das Verlangen nach Gott intensivieren.
In der armenischen liturgischen Praxis wird diese spirituelle Dimension des Fastens durch Gebete und Hymnen begleitet, die den Gläubigen helfen, ihren Verzicht als Hingabe an Gott zu verstehen und zu leben.
Die sakramentale Dimension des Fastens
In der östlichen theologischen Tradition wird das Fasten nicht dualistisch als Verleugnung des Körpers zugunsten des Geistes verstanden, sondern sakramental – als Heiligung des ganzen Menschen, Leib und Seele. Die Kirchenväter betonen die Einheit von spiritueller und körperlicher Askese.
Der heilige Johannes Chrysostomos (ca. 349-407) entwickelt in seinen Predigten eine ganzheitliche Theologie des Fastens. Für ihn umfasst das wahre Fasten nicht nur den Verzicht auf bestimmte Speisen, sondern auch auf sündhafte Gewohnheiten wie üble Nachrede, Zorn oder Neid. Es ist ein Fasten aller Sinne und Fähigkeiten – der Augen, der Ohren, der Zunge, der Hände – ein Fasten, das den ganzen Menschen in den Dienst Gottes stellt.
Diese ganzheitliche Perspektive findet sich auch in der armenischen spirituellen Tradition. Das Fasten wird hier als Weg verstanden, auf dem der Mensch seine ursprüngliche Integrität und Harmonie wiederfindet – jene Einheit mit Gott, mit sich selbst, mit den Mitmenschen und mit der Schöpfung, die durch die Sünde zerbrochen wurde.
Die mystisch-sakramentale Dimension des Fastens zeigt sich besonders in seiner Beziehung zur Eucharistie. In der armenischen wie in der gesamten östlichen Tradition wird das Fasten als Vorbereitung auf den Empfang der heiligen Kommunion am Ostern, am Tag der Auferstehung des Herrn, verstanden. Der Verzicht soll den Hunger nach dem „Brot des Lebens“ (Joh 6,35) steigern und den Menschen befähigen, Christus mit größerer Offenheit zu empfangen.
Der armenische Kirchenvater Nerses Shnorhali (1102-1173) betont in seinen liturgischen Schriften diese Verbindung von Fasten und Eucharistie. Das Fasten ist für ihn nicht nur Verzicht, sondern positive Vorbereitung – ein Freimachen der Seele für die Begegnung mit dem eucharistischen Christus.
Fasten als Weg zur wahren Freiheit
Die Verbindung von Fasten und Gerechtigkeit, wie sie in der prophetischen Tradition artikuliert wird, berührt eine grundlegende philosophische Frage: Was ist wahre Freiheit und wie verhält sie sich zur Verantwortung für den Anderen?
Die französische Philosophin Simone Weil (1909-1943) hat in ihrem Werk tiefgründig über die spirituelle Bedeutung des Verzichts nachgedacht. Für sie ist die freiwillige Askese ein Weg, um jene innere Leere zu schaffen, die Raum gibt für die Begegnung mit dem Absoluten und dem Anderen. Der Verzicht wird damit zu einem Akt der Aufmerksamkeit – einer liebenden Präsenz, die fähig ist, den Anderen in seiner Not wahrzunehmen.
Diese Perspektive resoniert mit dem Denken des jüdischen Philosophen Emmanuel Levinas (1906-1995), für den die ethische Beziehung zum Anderen der Ursprung aller Philosophie ist. Nach Levinas begegnet uns im „Antlitz des Anderen“ ein unbedingter ethischer Anspruch, der unsere Selbstbezogenheit durchbricht und uns in die Verantwortung ruft.
Im Licht dieser philosophischen Reflexionen erscheint das prophetische Verständnis des Fastens als ein Weg zu authentischer Freiheit und Verantwortung. Der Verzicht auf die Befriedigung eigener Bedürfnisse öffnet den Raum für die Wahrnehmung der Bedürfnisse anderer. Die Askese wird zur Schule der Empathie und Solidarität.
Diese ethische Dimension des Fastens ist besonders relevant in einer Konsumgesellschaft, die von der ständigen Stimulation und Befriedigung von Bedürfnissen lebt. Das Fasten wird hier zu einem prophetischen Zeichen des Widerspruchs – zu einer Praxis, die die herrschenden Werte von Konsum und Selbstoptimierung in Frage stellt und auf eine andere Ökonomie verweist: die Ökonomie des Teilens und der Gerechtigkeit.
Praktische Übungen für ein wahres Fasten
Die prophetische Kritik an einem rein rituellen Fasten und die christliche Tradition eines ganzheitlichen Verständnisses von Askese laden uns ein, unsere eigene Fastenpraxis zu vertiefen und zu erneuern. Hier sind einige konkrete Übungen für die Fastenzeit:
1. Fasten und Teilen verbinden
Berechne, was du durch deinen Nahrungsverzicht während der Fastenzeit einsparst, und spende diesen Betrag an deine Kirchengemeinde oder an eine Organisation, die sich für Gerechtigkeit und die Überwindung der Armut einsetzt. So wird dein persönliches Fasten unmittelbar zu einem Akt der Solidarität mit den Bedürftigen.
Du kannst auch bewusst Zeit, die du sonst für Medienkonsum oder andere Aktivitäten verwendest, für ehrenamtliches Engagement oder konkrete Hilfe für Menschen in Not einsetzen.
2. Ganzheitlich fasten
Erweitere dein Fasten über den Nahrungsverzicht hinaus auf andere Bereiche deines Lebens. Praktiziere ein „Fasten der Zunge“, indem du bewusst auf negative Rede, Kritik oder Klatsch verzichtest. Übe ein „Fasten der Augen“, indem du deinen Medienkonsum einschränkst und stattdessen Zeit für Stille und Kontemplation gewinnst.
Diese ganzheitliche Askese kann dir helfen, deine Sinne und Fähigkeiten neu auf Gott und den Nächsten auszurichten.
3. Verborgene Werke der Barmherzigkeit
Jesus empfiehlt, das Fasten im Verborgenen zu üben, ohne es zur Schau zu stellen. Ebenso kannst du verborgene Werke der Barmherzigkeit praktizieren – Taten der Güte und Hilfe, die niemand bemerkt oder würdigt. Diese verborgene Praxis schützt dich vor Selbstgerechtigkeit und Stolz und bewahrt die Reinheit deiner Intention.
4. Kontemplative Lektüre von Jesaja 58
Nimm dir Zeit für eine meditative Lektüre des prophetischen Textes über das wahre Fasten (Jesaja 58,1-12). Lies den Text langsam und aufmerksam, lasse einzelne Worte und Bilder in dir nachklingen. Frage dich im Gebet, wie Gott dich durch diesen Text anspricht und zu welchen konkreten Schritten er dich einlädt.
Gebet zur Erneuerung des Fastens
Barmherziger Gott,
du hast uns durch den Propheten Jesaja gelehrt,
dass das Fasten, das dir gefällt,
nicht nur im Verzicht auf Nahrung besteht,
sondern in der Hinwendung zu den Bedürftigen und Unterdrückten.
Reinige mein Herz von aller Selbstgerechtigkeit
und lehre mich, mein Fasten mit Werken der Liebe zu verbinden.
Öffne meine Augen für die Not meiner Mitmenschen
und zeige mir, wie ich meine Ressourcen mit ihnen teilen kann.
Hilf mir, ganzheitlich zu fasten –
nicht nur mit dem Leib, sondern auch mit der Seele,
nicht nur mit dem Mund, sondern auch mit dem Herzen,
nicht nur für meine eigene Heiligung,
sondern für die Gerechtigkeit in der Welt.
Lass mein Fasten zu einem Zeichen der Hoffnung werden
in einer Welt des Überflusses und des Mangels,
und führe mich durch diese Zeit der Entbehrung
zu einer tieferen Gemeinschaft mit dir und mit allen Menschen.
Durch Christus, unseren Herrn. Amen.
Fasten als Weg zu umfassender Gerechtigkeit
Die prophetische Kritik an einem rein rituellen Fasten führt uns nicht zur Aufgabe der Askese, sondern zu ihrer Vertiefung und Erweiterung. Das wahre Fasten, wie es Jesaja verkündet und Jesus lehrt, ist ein Weg zu umfassender Gerechtigkeit – zu einer Neugestaltung unserer Beziehung zu Gott, zu uns selbst, zu unseren Mitmenschen und zur gesamten Schöpfung.
In der armenischen Tradition wird diese ganzheitliche Dimension des Fastens in den liturgischen Texten und Gebeten der Fastenzeit immer wieder betont. Das Fasten wird hier verstanden als eine Zeit der Erneuerung, in der der ganze Mensch – Leib und Seele – in seiner ursprünglichen Integrität wiederhergestellt wird.
Diese Wiederherstellung ist zugleich personal und sozial. Sie betrifft nicht nur das individuelle Seelenheil, sondern die gesamte menschliche Gemeinschaft. Das wahre Fasten, zu dem die Propheten und Kirchenväter uns aufrufen, ist ein Weg zu jener umfassenden Gerechtigkeit, die der hebräische Begriff zedakah und der griechische Begriff dikaiosyne bezeichnen – ein Zustand, in dem alle Beziehungen in Harmonie und Einklang sind.
In diesem Sinn ist das Fasten nicht nur eine Praxis der Fastenzeit, sondern ein Lebensweg – eine fortwährende Umkehr vom Egozentrismus zur Liebe, von der Habsucht zum Teilen, von der Gleichgültigkeit zur Solidarität. Es ist ein Weg, der uns mit dem prophetischen Erbe der Kirche verbindet und uns einlädt, Zeugen jener größeren Gerechtigkeit zu sein, die das Reich Gottes kennzeichnet.
Pfr. Dr. Diradur Sardaryan