Von der Schöpfung zur Auferstehung:
Die biblischen Seligpreisungen –
Der Weg zur Heiligkeit
3. Woche, Donnerstag (20. März 2025):
Biblische Lesung für den Tag:
Matthäus 5:1-12; Psalm 1
Der neue Sinai und die Charta des Gottesreiches
„Als Jesus die vielen Menschen sah, stieg er auf einen Berg. Er setzte sich, und seine Jünger traten zu ihm. Dann begann er zu reden und lehrte sie.“ (Mt 5,1-2)
Mit dieser scheinbar einfachen Einleitung markiert der Evangelist Matthäus den Beginn der Bergpredigt – jener umfassenden Unterweisung, die als Magna Charta des christlichen Lebens gilt. Die Szenerie ist bewusst gewählt und theologisch bedeutsam: Jesus steigt auf einen Berg, setzt sich (die Haltung des autoritativen Lehrers im Judentum) und beginnt zu lehren. Die Parallele zu Mose, der auf den Sinai stieg, um das Gesetz zu empfangen, ist unübersehbar. Doch während Mose als Mittler zwischen Gott und dem Volk fungierte, spricht Jesus mit einer Autorität, die über jene des Mose hinausgeht – die Autorität des fleischgewordenen Wortes Gottes selbst.
Die Bergpredigt beginnt mit den Seligpreisungen – jenen paradoxen Aussagen, die die Werte des Gottesreiches verkünden und die Werte der Welt auf den Kopf stellen. In der griechischen Originalsprache beginnt jede dieser Seligpreisungen mit dem Wort makarioi – „selig“ oder „glückselig“. Dieses Wort bezeichnet nicht ein flüchtiges Glücksgefühl, sondern einen Zustand tiefer Erfüllung und Freude, der aus der rechten Beziehung zu Gott entspringt.
Nach unserer Betrachtung der Taufe Jesu als Beginn der neuen Schöpfung und der Versuchung Christi als paradigmatischem Kampf gegen das Böse wenden wir uns heute jener Lehre zu, die das Herzstück der christlichen Ethik bildet. Die Seligpreisungen sind nicht nur moralische Leitlinien, sondern eine neue Vision des Menschen – eine Vision, die uns einlädt, das Reich Gottes nicht nur als zukünftige Hoffnung, sondern als gegenwärtige Wirklichkeit zu leben.
In der armenischen theologischen Tradition werden die Seligpreisungen als Stufen oder Leiter verstanden, die den geistlichen Aufstieg des Menschen beschreiben. Jede Seligpreisung baut auf der vorhergehenden auf und führt zu einer tieferen Beziehung mit Gott. So entsteht ein Weg der Heiligung, der vom Bewusstsein der eigenen Armut bis zur Freude in der Verfolgung führt.
Entfaltung des göttlichen Lebens im Menschen
Die neun Seligpreisungen bilden eine organische Einheit – eine progressive Entfaltung des göttlichen Lebens im Menschen. Sie sind nicht isolierte Tugenden, sondern Aspekte eines ganzheitlichen Lebens in Christus.
1. „Selig sind die Armen im Geiste, denn ihnen gehört das Himmelreich.“ (Mt 5,3)
Die erste Seligpreisung legt das Fundament für alle folgenden. Die „Armut im Geiste“ (ptochoi to pneumati) bezeichnet nicht intellektuelle Armut, sondern eine existenzielle Haltung der Offenheit und Empfänglichkeit gegenüber Gott. Es ist das Bewusstsein der eigenen Bedürftigkeit und das Vertrauen auf Gottes Gnade.
Der heilige Johannes Chrysostomos (ca. 349-407) deutet diese Armut als Demut – als jene Haltung, die sich bewusst ist, dass der Mensch aus sich selbst heraus nichts vermag, sondern alles von Gott empfängt. Diese Demut ist nicht Selbsterniedrigung, sondern Wahrhaftigkeit – die realistische Einschätzung der eigenen Geschöpflichkeit und Abhängigkeit.
In der armenischen spirituellen Tradition wird diese erste Seligpreisung als Ausgangspunkt des geistlichen Weges verstanden. Der Kirchenvater Eznik von Kolb (5. Jahrhundert) betont in seinen Schriften, dass die Erkenntnis der eigenen Begrenztheit den Raum schafft für die Erfahrung der göttlichen Gnade. Nur wer sich seiner Armut bewusst ist, kann den Reichtum Gottes empfangen.
Die Verheißung – „ihnen gehört das Himmelreich“ – steht bemerkenswerterweise im Präsens. Das Himmelreich ist nicht nur eine zukünftige Realität, sondern eine gegenwärtige Erfahrung für jene, die in dieser radikalen Offenheit vor Gott leben.
2. „Selig sind die Trauernden, denn sie werden getröstet werden.“ (Mt 5,4)
Die zweite Seligpreisung spricht von einer Trauer (penthountes), die sich aus der ersten Seligpreisung ergibt. Wer seine eigene Armut erkennt und die Welt im Licht Gottes sieht, kann nicht anders, als über die Gebrochenheit der Schöpfung und die Tragik der Sünde zu trauern.
Der heilige Gregor von Nyssa (ca. 335-394) unterscheidet in seiner Schrift „Über die Seligpreisungen“ zwischen weltlicher Trauer, die aus verletzter Eigenliebe entsteht, und geistlicher Trauer, die aus der Liebe zu Gott und den Mitmenschen entspringt. Die geistliche Trauer ist nicht lähmend, sondern aktivierend – sie führt zur Umkehr und zur Sehnsucht nach Heilung.
Die Verheißung des Trostes (paraklethesontai) ist ein eschatologisches Versprechen, das aber schon jetzt ansatzweise erfahrbar ist. Der göttliche Trost besteht nicht in der Beseitigung allen Leidens, sondern in der heilenden Gegenwart Gottes inmitten der Trauer.
3. „Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Land erben.“ (Mt 5,5)
Die dritte Seligpreisung greift ein Wort aus Psalm 37,11 auf: „Die Sanftmütigen werden das Land besitzen.“ Das hebräische Wort für „Sanftmut“ (anavah) bezeichnet eine Haltung der Demut und Gelassenheit, die aus dem Vertrauen auf Gott entspringt.
Die Sanftmut ist nicht Schwäche oder Nachgiebigkeit, sondern eine Form der Stärke, die aus der Selbstbeherrschung kommt. Der heilige Basilius der Große (ca. 330-379) beschreibt sie als jene innere Ruhe, die auch in Konflikten und Anfeindungen die Würde bewahrt und nicht in Zorn oder Aggression verfällt.
Die Verheißung des Landbesitzes erinnert an die ursprüngliche Bestimmung des Menschen im Paradies (Gen 2,15) und weist zugleich voraus auf die eschatologische Erneuerung der Schöpfung. Während die Welt oft von denen beherrscht wird, die Gewalt und Macht ausüben, verheißt Jesus den Sanftmütigen den wahren und bleibenden „Besitz“ der Erde.
4. „Selig sind, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden gesättigt werden.“ (Mt 5,6)
Die vierte Seligpreisung spricht von einem existenziellen Hunger und Durst nach Gerechtigkeit (dikaiosyne). Im biblischen Sinne bezeichnet Gerechtigkeit nicht nur eine juristische oder soziale Kategorie, sondern die Übereinstimmung mit Gottes Willen und die rechte Beziehung zu Gott und den Mitmenschen.
Johannes Chrysostomos sieht in diesem Hunger nach Gerechtigkeit nicht nur ein intellektuelles Interesse oder eine moralische Präferenz, sondern eine verzehrende Leidenschaft – vergleichbar dem physischen Hunger und Durst, die den ganzen Menschen erfassen und sein Handeln bestimmen.
Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit wird im Armenischen mit dem Begriff ardarut’yun bezeichnet, der sowohl persönliche Rechtschaffenheit als auch soziale Gerechtigkeit umfasst. Die armenischen Kirchenväter betonen, dass diese Gerechtigkeit sowohl eine vertikale Dimension (die rechte Beziehung zu Gott) als auch eine horizontale Dimension (die rechte Beziehung zu den Mitmenschen) hat.
Die Verheißung der Sättigung (chortasthesontai) weist auf eine vollkommene Erfüllung dieser Sehnsucht hin. Sie wird eschatologisch vollständig verwirklicht, aber bereits jetzt erfahren jene, die nach Gerechtigkeit streben, Momente der Erfüllung und des Friedens.
5. „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden.“ (Mt 5,7)
Die fünfte Seligpreisung stellt die Barmherzigkeit (eleemones) als zentrale Tugend des christlichen Lebens heraus. Sie ist nicht nur ein Gefühl des Mitleids, sondern eine tätige Zuwendung zu den Leidenden und Bedürftigen.
Der heilige Augustinus (354-430) sieht in dieser Seligpreisung einen direkten Zusammenhang mit der vierten: Der Hunger nach Gerechtigkeit führt zur Barmherzigkeit gegenüber anderen. Wer selbst die Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit erlebt, wird mild im Urteil über andere und großzügig im Helfen.
In der armenischen Tradition wird die Barmherzigkeit (voghormut’yun) als Wesensmerkmal Gottes und als Berufung des Menschen verstanden. Die armenische Liturgie enthält zahlreiche Anrufungen der göttlichen Barmherzigkeit („Herr, erbarme dich“ – Der voghormya), die die Gläubigen an ihre eigene Berufung zur Barmherzigkeit erinnern.
Die Verheißung des Erbarmens enthält ein Moment der Reziprozität: „Wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden“ (Mt 7,2). Doch es handelt sich nicht um einen mechanischen Tauschhandel, sondern um einen Zusammenhang zwischen der inneren Haltung des Menschen und seiner Fähigkeit, Gottes Erbarmen zu empfangen.
6. „Selig sind, die rein sind im Herzen, denn sie werden Gott schauen.“ (Mt 5,8)
Die sechste Seligpreisung spricht von einer Reinheit des Herzens (katharoi te kardia), die zur Gottesschau führt. Das „Herz“ (kardia) ist in der biblischen Anthropologie nicht nur der Sitz der Gefühle, sondern das Zentrum der Persönlichkeit, der Ort der Entscheidungen und der tiefsten Motivation.
Der heilige Gregor von Nyssa sieht in dieser Reinheit des Herzens nicht nur die Abwesenheit von moralischen Fehlern, sondern eine positive Qualität – die Einfachheit und Lauterkeit der Intention, die ungeteilt auf Gott ausgerichtet ist. Für ihn ist die Reinheit des Herzens letztlich die Liebe, die das ganze Wesen des Menschen durchdringt und verwandelt.
Die Verheißung der Gottesschau (opsontai ton theon) ist die höchste Verheißung, die einem Menschen gegeben werden kann. Sie erinnert an die Seligpreisung aus der Offenbarung: „Selig, die ihre Kleider waschen: Sie haben Anrecht auf die Frucht des Lebensbaumes und dürfen zu den Toren in die Stadt eintreten“ (Offb 22,14).
7. „Selig sind die Friedensstifter, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden.“ (Mt 5,9)
Die siebte Seligpreisung preist die Friedensstifter (eirenopoioi) glücklich. Der Friede (eirene), von dem hier die Rede ist, ist nicht nur die Abwesenheit von Konflikten, sondern die positive Herstellung von Harmonie und Gerechtigkeit – analog zum hebräischen Begriff shalom, der Wohlergehen und Heil in allen Dimensionen des Lebens bezeichnet.
Johannes Chrysostomos betont, dass die Friedensstifter nicht nur zwischen Menschen vermitteln, sondern auch zur Versöhnung zwischen Gott und Mensch beitragen, indem sie das Evangelium verkünden und selbst ein Leben des Friedens führen.
Die armenische Kirche hat trotz aller erlittenen Gewalt immer wieder zum Frieden und zur Versöhnung aufgerufen – ein Zeugnis dafür, dass wahre Stärke nicht in der Vergeltung, sondern in der Überwindung des Hasses liegt.
Die Verheißung, „Söhne Gottes genannt zu werden“, deutet auf die Teilhabe an der göttlichen Natur hin, die durch Christus ermöglicht wird. Die Friedensstifter werden nicht nur funktional als Vermittler tätig, sondern spiegeln wesenhaft das Sein Gottes wider, der in Christus die Welt mit sich versöhnt hat (2 Kor 5,19).
8. „Selig sind, die verfolgt werden um der Gerechtigkeit willen, denn ihnen gehört das Himmelreich.“ (Mt 5,10)
Die achte Seligpreisung kehrt zum Ausgangspunkt zurück: Wie die erste, schließt auch sie mit der Verheißung des Himmelreiches. Sie spricht von jenen, die Verfolgung (dediogmenoi) erleiden, weil sie nach Gerechtigkeit streben und sich für Gottes Willen einsetzen.
Basilius der Große sieht in dieser Verfolgung nicht ein Unglück, sondern einen Beweis für die Authentizität des christlichen Zeugnisses. Wer wirklich nach Gerechtigkeit strebt, wird unweigerlich den Widerstand jener erfahren, die von der Ungerechtigkeit profitieren.
Für die armenische Kirche hat diese Seligpreisung eine unmittelbare historische Relevanz. Als erste christliche Nation erlebte Armenien immer wieder Verfolgung um des Glaubens willen, vom Martyrium des heiligen Gregor des Erleuchters (ca. 257-331) bis zum Völkermord im frühen 20. Jahrhundert und Vertreibung der Armenier aus Berg Karabach. Diese Erfahrungen haben eine tiefe Spiritualität des Martyriums (vkayut’yun – wörtlich: „Zeugnis“) geprägt, die in der Treue zu Christus auch unter extremen Bedrängnissen besteht.
Die Verheißung des Himmelreiches schließt den Kreis zu ersten Seligpreisung. Sie zeigt, dass die geistliche Armut und die Verfolgung um der Gerechtigkeit willen zwei Aspekte derselben Grundhaltung sind: der radikalen Hingabe an Gott und seinen Willen.
9. „Selig seid ihr, wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt und auf alle mögliche Weise verleumdet werdet. Freut euch und jubelt: Euer Lohn im Himmel wird groß sein.“ (Mt 5,11-12)
Die neunte Seligpreisung, erweitert und vertieft die achte Seligpreisung. Während die achte Seligpreisung allgemein von Verfolgung „um der Gerechtigkeit willen“ spricht, wird hier die Verfolgung „um meinetwillen“ – also um Christi willen – zum Thema.
Diese Seligpreisung hat eine persönlichere und direktere Qualität als alle vorherigen. Jesus spricht nicht mehr in der dritten Person („Selig sind…“), sondern wendet sich direkt an seine Zuhörer: „Selig seid ihr…“. Es ist, als würde er voraussehen, dass seine Jünger tatsächlich Verfolgung erleiden werden – was sich in der Geschichte der frühen Kirche und bis heute vielerorts bestätigt hat.
Der heilige Johannes Chrysostomos (ca. 349-407) betont in seiner Auslegung dieser Seligpreisung, dass die Verfolgung um Christi willen die höchste Form des Martyriums darstellt. Sie ist nicht nur ein passives Erdulden von Unrecht, sondern ein aktives Zeugnis (martyrion bedeutet im Griechischen „Zeugnis“) für die Wahrheit des Evangeliums.
Bemerkenswert ist der Aufruf zur Freude angesichts der Verfolgung: „Freut euch und jubelt“. Diese paradoxe Freude entspringt nicht einem Masochismus, sondern dem Bewusstsein der Teilhabe am Schicksal Christi und der Propheten: „Denn ebenso haben sie schon vor euch die Propheten verfolgt.“ (Mt 5,12) Die Verfolgung wird so zum Zeichen der Authentizität der Nachfolge.
Die Verheißung des „großen Lohnes im Himmel“ deutet auf eine Belohnung hin, die alle irdischen Maßstäbe übersteigt. Sie ist nicht ein ferner Trost, der das gegenwärtige Leiden relativiert, sondern eine Gewissheit, die dem Leiden selbst einen neuen Sinn verleiht – als Teilhabe am erlösenden Leiden Christi.
In unserer heutigen Zeit, in der Christen in vielen Teilen der Welt weiterhin verfolgt werden, bleibt diese Seligpreisung eine Quelle der Hoffnung und des Mutes. Sie erinnert uns daran, dass wahre Nachfolge Christi nie bequem sein wird und dass die Treue zum Evangelium einen Preis fordern kann – aber auch, dass kein Leiden um Christi willen vergeblich ist.
Die Seligpreisungen als Antithesen zur weltlichen Weisheit
Die Seligpreisungen stehen in deutlichem Kontrast zu den Werten und Prioritäten der Welt. Sie präsentieren eine „umgekehrte Weisheit“, die den Maßstäben der Gesellschaft widerspricht:
- Während die Welt Reichtum und Selbstversorgung preist, spricht Jesus von der Seligkeit der Armen.
- Während die Welt Unterhaltung sucht, preist Jesus jene, die trauern.
- Während die Welt Durchsetzungsvermögen und Dominanz bewundert, spricht Jesus von der Seligkeit der Sanftmütigen.
- Während die Welt nach schneller Befriedigung der Eigeninteressen strebt, preist Jesus jene, die nach Gerechtigkeit hungern.
- Während die Welt Selbstbehauptung und Härte fördert, spricht Jesus von der Seligkeit der Barmherzigen.
- Während die Welt Komplexität und Ambiguität kultiviert, preist Jesus die Reinen im Herzen.
- Während die Welt Konflikte schürt und Feindbilder pflegt, spricht Jesus von der Seligkeit der Friedensstifter.
- Während die Welt Anpassung und Kompromiss belohnt, preist Jesus jene, die um der Gerechtigkeit willen Verfolgung erleiden.
- Während die Welt immer mehr sekulärer wird, weist Jesus Christus darauf hin, dass wahre Freude in der Gemeinschaft mit Gott besteht, in dem wir ihn öffentlich bekennen und Zeugnis ablegen.
Diese Antithesen machen deutlich, dass die Seligpreisungen nicht nur ethische Maximen sind, sondern eine fundamentale Herausforderung an die herrschenden Wertesysteme. Sie sind revolutionär im tiefsten Sinne des Wortes – nicht als Aufruf zu politischem Umsturz, sondern als Einladung zu einer neuen Seinsweise, die aus der Beziehung zu Gott erwächst.
Der Theologe Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) hat in seinem Werk „Nachfolge“ diese herausfordernde Dimension der Seligpreisungen betont. Für ihn sind sie nicht einfach moralische Imperative, sondern eine Beschreibung der Jüngerschaft – jenes Lebens, das aus der Gemeinschaft mit Christus entspringt und notwendig in Spannung zur Welt steht.
Christus als Verkörperung der Seligpreisungen
Die Seligpreisungen sind nicht nur Lehrsätze, die Jesus verkündet, sondern Ausdruck seines eigenen Wesens und Handelns. Er selbst ist ihr primärer Träger und Erfüller:
- Er ist der wahrhaft Arme im Geiste, der alles vom Vater empfängt und in vollkommenem Vertrauen lebt.
- Er ist der Trauernde, der über Jerusalem weint (Lk 19,41) und im Garten Gethsemane die Last der Welt trägt.
- Er ist der Sanftmütige, der nicht schreit und dessen Stimme man nicht auf den Straßen hört (Mt 12,19).
- Er ist der Hungernde nach Gerechtigkeit, dessen Speise es ist, den Willen des Vaters zu tun (Joh 4,34).
- Er ist der Barmherzige, der die Kranken heilt und die Sünder annimmt.
- Er ist der Reine im Herzen, der ohne Sünde ist und den Vater vollkommen kennt.
- Er ist der Friedensstifter, der in seinem Blut Frieden stiftet (Kol 1,20) und die trennende Wand niederreißt (Eph 2,14).
- Er ist der um der Gerechtigkeit willen Verfolgte, der am Kreuz den höchsten Preis für die Wahrheit bezahlt.
- Er ist der Menschgewordene Sohn Gottes, in dem die Heilige Dreifaltigkeit sichtbar und erfahrbar wird, er ist der Zeugnis ablegt und dafür gekreuzigt wird.
Diese christologische Lektüre der Seligpreisungen findet sich bereits bei den Kirchenvätern. Augustinus sieht in ihnen eine Beschreibung des vollkommenen Lebens, das in Christus verwirklicht ist und durch den Heiligen Geist in den Gläubigen fortgesetzt wird.
In der armenischen theologischen Tradition wird diese christologische Deutung besonders in den Hymnen (Šarakans) und liturgischen Texten entfaltet. Christus wird dort als das Urbild aller Seligkeiten gepriesen, als derjenige, der in seiner Person Himmel und Erde versöhnt und den Menschen den Weg zur wahren Seligkeit eröffnet.
Die Seligpreisungen als existenzielle Herausforderung
Die Seligpreisungen, wie sie in der Bergpredigt (Matthäus 5,3-12) überliefert sind, stellen nicht nur ethische oder religiöse Leitsätze dar, sondern konfrontieren den Menschen mit grundlegenden Fragen nach dem Sinn seiner Existenz, der Natur des Glücks und der Möglichkeit authentischen Lebens. Sie fordern eine Umkehr der weltlichen Werte – die Armen, die Trauernden, die Sanftmütigen werden selig gesprochen – und laden zu einer Lebensweise ein, die im Widerspruch zu konventionellen Vorstellungen von Erfolg und Zufriedenheit steht. Diese Paradoxien machen sie zu einer existenziellen Herausforderung, die sowohl in der modernen Philosophie als auch in der orthodoxen Theologie tiefgehende Resonanz findet.
Søren Kierkegaard betrachtet die Seligpreisungen als einen radikalen Aufruf, der den Einzelnen zu einem „Sprung des Glaubens“ bewegt. In seinem Werk „Einübung im Christentum“ beschreibt er sie als Aufforderung, sich von gesellschaftlichen Sicherheiten zu lösen und in Freiheit eine authentische Beziehung zu Gott zu suchen. Diese Entscheidung ist keine theoretische Übung, sondern ein existenzieller Akt, der den Menschen vor die Abgründe seines Daseins stellt. Emmanuel Levinas hingegen lenkt den Blick auf den Anderen: Die Seligpreisungen rufen dazu auf, den Leidenden und Bedürftigen zu begegnen, wodurch sie eine ethische Verantwortung begründen, die dem Leben Tiefe und Richtung gibt.
Ein orthodoxes Korrektiv findet sich bei Gregor von Nyssa, der die Seligpreisungen als Stufen eines Weges zur Vergöttlichung versteht. In seinen „Homilien über die Seligpreisungen“ zeigt er, wie sie den Menschen dazu anleiten, über weltliche Grenzen hinauszugehen und in der Gemeinschaft mit dem Göttlichen wahres Glück zu finden. Dieser Ansatz ergänzt die modernen Perspektiven, indem er die individuelle Wahl und die ethische Bindung in eine transzendente Bestimmung einbettet. So fordern die Seligpreisungen dazu auf, das eigene Leben in der Spannung zwischen Freiheit, Verantwortung und göttlicher Berufung neu zu bestimmen.
Praktische Übungen zur Verinnerlichung der Seligpreisungen
Die Seligpreisungen sind nicht nur Gegenstand theologischer Reflexion, sondern Einladung zu einer konkreten Lebenspraxis. Hier sind einige Übungen, die helfen können, sie in der Fastenzeit zu verinnerlichen:
1. Die Seligpreisungen als Spiegel der Selbsterkenntnis
Nimm dir Zeit, jeden Tag eine der Seligpreisungen zu betrachten und dich in ihrem Licht zu prüfen. Frage dich: Wo stehe ich in Bezug auf diese Seligpreisung? Was könnte es für mich konkret bedeuten, arm im Geiste, sanftmütig oder barmherzig zu sein? Wo erkenne ich in meinem Leben bereits Spuren dieser Seligpreisung, und wo fehlt sie mir noch?
Diese Übung der Selbsterkenntnis ist nicht als moralische Selbstverurteilung gedacht, sondern als ehrliche Bestandsaufnahme, die zur Umkehr und zum Wachstum führen kann.
2. Die Seligpreisungen als Leitfaden für konkretes Handeln
Wähle eine der Seligpreisungen aus und setze sie bewusst in einer konkreten Situation deines Alltags um. Zum Beispiel:
- Wenn du die Barmherzigkeit praktizieren möchtest, überlege, wem du heute konkret helfen oder vergeben könntest.
- Wenn du die Sanftmut einüben willst, nimm dir vor, in einer Konfliktsituation bewusst auf aggressive Reaktionen zu verzichten und stattdessen mit Ruhe und Respekt zu antworten.
- Wenn du ein Friedensstifter sein möchtest, suche nach einer Gelegenheit, zwischen zerstrittenen Personen zu vermitteln oder selbst einen ersten Schritt zur Versöhnung zu tun.
Diese konkreten Handlungen sind nicht nur äußere Taten, sondern Übungen, die allmählich das Herz formen und verändern.
3. Die Seligpreisungen als Grundlage des Gebets
Verwende die Seligpreisungen als Struktur für dein persönliches Gebet. Du könntest beispielsweise jeden Tag eine andere Seligpreisung in den Mittelpunkt stellen:
- Beginne mit einer kurzen Betrachtung dieser Seligpreisung und ihrer Bedeutung.
- Danke Gott für die Momente, in denen du bereits etwas von ihrer Wirklichkeit erfahren hast.
- Bitte um die Gnade, tiefer in diese Seligpreisung hineinzuwachsen.
- Bete für jene, die in besonderer Weise mit dieser Seligpreisung verbunden sind (für die Trauernden, die Verfolgten, die Friedensstifter etc.).
Dieses Gebet kann dich sensibler machen für die geistliche Dimension der Seligpreisungen und dich tiefer mit jenen verbinden, die konkret in diesen Situationen leben.
4. Die Seligpreisungen als Gemeinschaftsprojekt
Überlege, wie du gemeinsam mit anderen an der Verwirklichung der Seligpreisungen arbeiten könntest. Die Seligpreisungen sind nicht nur individuelle Tugenden, sondern beschreiben eine neue Art des Zusammenlebens. Du könntest:
- Mit Freunden oder Familienangehörigen über eine der Seligpreisungen sprechen und gemeinsam überlegen, wie ihr sie in eurem Umfeld leben könnt.
- Dich einer Initiative anschließen, die sich für Gerechtigkeit, Frieden oder Barmherzigkeit einsetzt.
- In deiner Gemeinde Zeiten des gemeinsamen Gebets mit Fokus auf die Seligpreisungen anregen.
Diese gemeinschaftliche Dimension erinnert daran, dass die Seligpreisungen keine private Frömmigkeitsübung, sondern ein Programm für die Erneuerung der Welt sind.
Gebet im Geist der Seligpreisungen
Herr Jesus Christus,
du hast auf dem Berg die Seligpreisungen verkündet
und sie in deinem Leben vollkommen verwirklicht.
Deine Worte sind wie ein Spiegel,
in dem ich mein wahres Ich erkennen kann,
und wie ein Licht, das mir den Weg weist.
Schenke mir die Armut im Geiste,
dass ich meine Bedürftigkeit erkenne
und mich ganz deiner Gnade öffne.
Gib mir ein Herz, das mit den Trauernden trauert
und in der Solidarität mit den Leidenden
deinen Trost erfahren darf.
Lehre mich die Sanftmut,
die nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke kommt,
und die in Konflikten den Weg des Friedens sucht.
Wecke in mir den Hunger nach Gerechtigkeit,
der nicht ruht, bis dein Wille geschieht
im Himmel wie auf Erden.
Erfülle mich mit deiner Barmherzigkeit,
dass ich vergebe, wie du vergibst,
und gebe, wie du gibst.
Reinige mein Herz von allem,
was den Blick auf dich verstellt,
und mach mich würdig dein Antlitz zu schauen.
Mache mich zum Werkzeug deines Friedens,
dass ich nicht Trennung säe, sondern Einheit,
nicht Hass, sondern Liebe.
Gib mir die Kraft, standhaft zu bleiben,
wenn ich um der Gerechtigkeit willen
auf Widerstand und Ablehnung stoße.
So lass mich, Herr, deine Seligpreisungen
nicht nur hören und bewundern,
sondern in meinem Leben Wirklichkeit werden lassen,
damit dein Reich komme und dein Name verherrlicht werde.
Amen.
Die Seligpreisungen als revolutionäre Charta des Gottesreiches
Die Seligpreisungen sind mehr als moralische Maximen oder spirituelle Ideale – sie sind die revolutionäre Charta des Gottesreiches, das mit Jesus Christus in die Welt gekommen ist. Sie beschreiben eine neue Ordnung, die nicht durch Gewalt oder politische Macht, sondern durch die transformierende Kraft der Liebe Gottes verwirklicht wird.
Während die Welt Erfolg an äußeren Maßstäben misst – an Reichtum, Status und Macht –, offenbart Jesus eine innere Wirklichkeit, in der jene selig sind, die in den Augen der Welt als schwach, gescheitert oder bedeutungslos erscheinen mögen. Dieses Paradox steht im Zentrum des Evangeliums: Der Weg zur wahren Erfüllung führt durch Demut, Mitgefühl und Selbsthingabe.
In der armenischen Tradition werden die Seligpreisungen nicht als unerreichbare Ideale betrachtet, sondern als Ausdruck einer Wirklichkeit, die in Christus bereits angebrochen ist und in der Gemeinschaft der Glaubenden fortgesetzt wird. Die Liturgie und die Schriften der armenischen Kirche sind durchdrungen von diesem Bewusstsein, dass das Reich Gottes keine ferne Utopie, sondern eine gegenwärtige Realität ist, die in der Nachfolge Christi erfahrbar wird.
Diese Spannung spiegelt sich auch in unserer Fastenzeit wider. Als Zeit der Buße und Umkehr erinnert sie uns an die Diskrepanz zwischen unserem tatsächlichen Leben und der Berufung, die in den Seligpreisungen ausgedrückt wird. Doch zugleich ist sie eine Zeit der Hoffnung und der Erneuerung, in der wir uns der transformierenden Gnade Gottes öffnen und konkrete Schritte auf dem Weg der Nachfolge gehen können.
Die Seligpreisungen sind ein konkreter Weg, der uns durch die Fastenzeit und durch unser ganzes Leben führt. Sie laden uns ein, die Welt mit anderen Augen zu sehen – mit den Augen Gottes, der in den Armen, den Trauernden, den Sanftmütigen und den Verfolgten die wahren Träger seiner Verheißung erkennt.
In einer Welt, die von Gewalt, Ungerechtigkeit und Egoismus geprägt ist, sind die Seligpreisungen eine radikale Alternative – eine Vision des menschlichen Lebens, wie es von Gott gedacht ist. Sie rufen uns auf, nicht dem Zeitgeist zu folgen, sondern Zeugen einer anderen Wirklichkeit zu sein, die in Christus bereits begonnen hat und in der Auferstehung ihre Vollendung finden wird.
Pfr. Dr. Diradur Sardaryan