Kolumne von Pfr. Dr. Diradur Sardaryan

An König David, dessen wir heute, zusammen mit dem Hl. Jakobus den Herrenbruder, in der Armenischen Kirche gedenken, scheiden sich bis heute die Geister: Hirtenjunge, Krieger, Musiker, Poet, Herrscher – und Sünder. Die Bibel erzählt seine Geschichte mit einer bemerkenswerten Offenheit. Vielleicht liegt darin ihr unvergänglicher Wert: David ist keine perfekte Ikone, sondern ein Spiegel des Lebens. Wer Davids Leben heute betrachtet, sieht Führungsprinzipien, die nicht nur zeitlos, sondern hochaktuell sind – und die sowohl für Staatschefs und CEOs als auch für jeden Menschen inspirierend wirken können.

Das Herz eines Hirten

Als der Prophet Samuel David aus den Reihen seiner Brüder erwählte, geschah dies unter einem zentralen göttlichen Prinzip: „Der Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz“ (1. Samuel 16,7). Dieser Vers birgt eine fundamentale theologische Wahrheit: Gottes Maßstäbe für Führungsqualitäten unterscheiden sich radikal von den oberflächlichen Kriterien der Welt. Die „Herzsicht“ Gottes bedeutet, dass wahre Führerschaft nicht durch äußeren Glanz oder technische Kompetenz definiert wird, sondern durch die Reinheit, Integrität und Authentizität des Inneren.

Authentizität ist hier keine bloße Aufrichtigkeit, sondern eine Übereinstimmung zwischen dem inneren Sein und dem äußeren Handeln. Sie ist ein Zeugnis dafür, dass die eigene Führungshaltung auf tiefen moralischen Überzeugungen und nicht auf situativem Opportunismus beruht. In der modernen Welt, die von performativen Masken und kurzfristigen Erfolgsstrategien geprägt ist, erinnert uns die Herzsicht Gottes daran, dass langfristiger Einfluss nur durch die Tugenden von Integrität und Empathie entstehen kann.

Empathie wiederum ist die Fähigkeit, das Herz des anderen zu sehen – eine Reflexion des göttlichen Blicks in unserem eigenen Handeln. Sie verbindet Führende und Geführte in einer Beziehung des gegenseitigen Vertrauens und der Wertschätzung. In David sehen wir eine Führungspersönlichkeit, die, gerade weil sie mit dem Herzen führt, nicht nur Gefolgschaft gewinnt, sondern auch die Seelen der Menschen berührt. Es ist diese ganzheitliche Führung – von Herz zu Herz – die wahre und nachhaltige Autorität verleiht.

Der Goliath-Moment

Der Kampf gegen Goliath ist nicht nur eine der bekanntesten, sondern auch eine der symbolträchtigsten Episoden der Bibel. David entschied sich gegen die schwere Rüstung, die König Saul ihm anbot, und setzte stattdessen auf die Technik, die er als Hirte perfektioniert hatte: die Schleuder. Dieses „disruptive Denken“ – der Mut, den traditionellen Werkzeugkasten zu verlassen – sicherte ihm den Sieg.

Der Goliath-Moment steht nicht nur für eine mutige Tat, sondern auch für eine theologische Einsicht in die Dynamik von Macht und Ohnmacht. Goliath, mit seiner überragenden Körpergröße und schwer bewaffneten Rüstung, verkörpert die scheinbar unüberwindbaren Kräfte der Welt – das, was der Mensch in seiner Schwachheit fürchtet. David jedoch begegnet diesem Giganten nicht mit den Mitteln, die ihm König Saul anbietet, sondern mit einer einfachen Schleuder.

Dieser Moment offenbart eine zentrale theologische Wahrheit: Gottes Stärke wird in der Schwachheit vollendet (2. Korinther 12,9). David verlässt sich nicht auf menschliche Konventionen oder militärische Standards, sondern auf seine eigene, von Gott geformte Identität. Die Ablehnung von Sauls Rüstung ist mehr als eine pragmatische Entscheidung – sie ist ein Akt des Glaubens, der zeigt, dass wahre Macht nicht in äußeren Werkzeugen, sondern in der inneren Verbindung zu Gott liegt.

Für die moderne Lebensführung bedeutet dies, dass der Schlüssel zum Erfolg nicht in der Nachahmung etablierter Strategien liegt, sondern in der authentischen Nutzung der eigenen Stärken und Fähigkeiten. Es erfordert den Mut, bewährte Strukturen zu hinterfragen und sich auf neue, manchmal unkonventionelle Wege einzulassen. Genau wie Davids Schleuder symbolisiert innovative Ansätze und persönliches Vertrauen den Weg, scheinbar übermächtige Hindernisse zu überwinden.

Dieser Kampf ist zudem eine Lektion in Demut und Weisheit. David erkennt, dass es nicht seine eigene Stärke ist, die den Sieg herbeiführt, sondern Gott, der in seiner Schwachheit wirkt. Für heutige gestresste Gesellschaft liegt darin die Erkenntnis, dass wahre Innovation nicht aus purer Selbstherrlichkeit entspringt, sondern aus der Fähigkeit, die Kräfte der Veränderung mit Bescheidenheit, Kreativität und Vertrauen auf etwas Größeres als sich selbst zu lenken. So wird der Goliath-Moment zu einem universellen Symbol für die Überwindung von Angst durch Glauben, für die Kraft des Geistes über die bloße Physis.

Umgang mit Rivalen

Die Beziehung zwischen David und König Saul illustriert eine tiefgreifende Wahrheit über die Spannungen, die entstehen können, wenn Loyalität und Rivalität aufeinandertreffen. Saul, getrieben von Eifersucht und Angst vor Davids wachsendem Einfluss, wird zum Verfolger, während David – der bereits in den Augen vieler der wahre Anführer ist – sich weigert, Sauls Position oder Würde anzugreifen. Diese Haltung entspringt einer geistlichen Tiefe, die weit über taktisches Verhalten hinausgeht: David sieht in Saul nicht nur den feindseligen König, sondern den von Gott Gesalbten.

In dieser Perspektive liegt ein entscheidender theologischer Kern. David zeigt, dass wahre Führerschaft nicht durch Machtdemonstration, sondern durch Respekt und Selbstbeherrschung definiert wird. Sein Umgang mit Saul offenbart eine Tugend, die in der Bibel wiederholt hervorgehoben wird: das Vertrauen darauf, dass Gottes Zeitplan höher ist als die menschliche Ungeduld. Indem David Sauls Leben verschont, auch wenn er die Gelegenheit hatte, ihn zu töten, beweist er, dass Geduld und Vertrauen in Gottes Gerechtigkeit die Macht der Vergeltung übertrumpfen.

Diese Geschichte führt uns die essenzielle Rolle der emotionalen Intelligenz vor Augen. Sie bedeutet nicht nur, eigene Gefühle zu kontrollieren, sondern auch, die Emotionen und Beweggründe der anderen zu erkennen und zu respektieren – selbst in Konflikten. Wie oft vergessen wir, dass die vor uns stehenden Menschen genauso Bild und Gleichnis Gottes sind? Menschen, die wie David handeln, werden zu Brückenbauern. Sie schaffen eine Atmosphäre des Vertrauens, selbst unter schwierigen Bedingungen, und stellen persönliche Eitelkeiten zugunsten eines größeren Ziels zurück.

In einer Zeit, in der die Welt zunehmend von Diversität und komplexen Interessenkonflikten geprägt ist, wird diese Fähigkeit zu einem Schlüsselmerkmal. Emotional intelligente Menschen inspirieren nicht durch Autorität, sondern durch Integrität und Mitgefühl. Davids Haltung gegenüber Saul lehrt uns, dass selbst in angespannten Beziehungen der Weg des Respekts und der Würde letztlich nicht nur moralisch überlegen ist, sondern auch die Grundlage für ein besseres Miteinander in der heutigen bunten Welt bildet.

Die Bathseba-Krise

Davids Verstrickung mit Bathseba ist eine der schmerzlichsten Episoden seiner Geschichte und zeigt die tiefgreifende Realität menschlicher Fehlbarkeit – selbst bei einem Mann, der als „ein Mann nach Gottes Herzen“ bezeichnet wird (1. Samuel 13,14). Sein Machtmissbrauch und die gezielte Eliminierung von Bathsebas Ehemann Urija offenbaren eine dunkle Seite seiner Persönlichkeit, die in scharfem Kontrast zu seiner sonstigen Integrität steht. Doch der Wendepunkt liegt nicht in der Tat selbst, sondern in seiner Reaktion auf die Konfrontation durch den Propheten Nathan. Nathan erzählt ihm eine Parabel, die Davids Unrecht aufdeckt, woraufhin David in aufrichtiger Reue bekennt: „Ich habe gegen den Herrn gesündigt“ (2. Samuel 12,13).

Theologisch betrachtet ist diese Episode eine tiefgehende Lektion über die Kraft der Reue und Buße. David zeigt, dass wahre Größe nicht darin liegt, fehlerlos zu sein, sondern Fehler einzugestehen und sich der Konsequenz zu stellen. Seine Reue ist nicht oberflächlich oder taktisch; sie ist eine radikale Umkehr, die ihn zurück in eine authentische Beziehung mit Gott führt. Dies erinnert uns daran, dass göttliche Gerechtigkeit stets mit Barmherzigkeit verbunden ist – ein Konzept, das in der modernen Welt oft verloren geht, worüber wir aber in unseren Kirchen täglich beten: Herr, richte uns nicht nach deiner Gerechtigkeit, sondern nach Deiner Barmherzigkeit erbarme Dich unser (Vergl. Daniel 9,18; 5.Mose 9,4; Römer 3,23).

In einer Zeit, in der öffentliche (oft auch ausdrücklich provozierte) Fehltritte oft zu einer sofortigen gesellschaftlichen Ächtung führen, zeigt die Geschichte Davids eine Alternative: Fehler können ein Wendepunkt sein, wenn sie mit Reue und dem Willen zur Veränderung begegnet werden. Authentizität bedeutet in diesem Sinne: Verantwortung zu übernehmen, ohne sich hinter PR-Strategien oder Schuldzuweisungen zu verstecken. Davids Geschichte lehrt, dass Umkehr nicht nur eine persönliche, sondern auch eine moralische Verpflichtung ist – und dass sie in der Lage ist, das Vertrauen wiederherzustellen, das durch Fehltritte verloren ging.

Das vereinte Königreich

Davids Vereinigung der zwölf Stämme Israels war nicht nur ein politischer Erfolg, sondern eine Meisterleistung, die auf einer tiefen Einsicht in die menschliche Gemeinschaft basierte. Er verstand, dass Einheit nicht durch erzwungene Gleichförmigkeit entsteht, sondern durch die Anerkennung und Wertschätzung von Vielfalt. Etwas, worüber heute zwar viel gesprochen wird, aber doch im Grunde lebt die sog. „Weltgemeinschaft“ in einem großen neben-, ja sogar gegeneinander. Jeder Stamm Israels brachte damals eigene Traditionen, Geschichten und Identitäten mit, und David schuf Raum für diese Unterschiede, während er zugleich eine gemeinsame Vision für ein geeintes Volk vorantrieb. Sein Königtum wurde so zu einem Symbol für Integration durch Respekt und Gerechtigkeit.

Theologisch gesehen liegt hierin eine fundamentale Wahrheit über die Natur der Gemeinschaft: Sie ist nicht das Aufgehen des Einzelnen im Kollektiv, sondern ein Miteinander, das Unterschiede als Bereicherung begreift. David setzte auf verbindende Symbole – die Hauptstadt Jerusalem, die Bundeslade, die gemeinsame Anbetung – um Einheit zu fördern, ohne kulturelle Eigenheiten zu unterdrücken. Er demonstrierte, dass Führung eine Balance aus zentraler Steuerung und dezentraler Autonomie erfordert, um sowohl Stabilität als auch Vielfalt zu bewahren.

In der heutigen Welt, in der Migration allgegenwärtig ist, in der Unternehmen mit kultureller Diversität und globalen Teams arbeiten, ist Davids Beispiel aktueller denn je. Die Fähigkeit, eine gemeinsame Mission zu schaffen, während individuelle Identitäten respektiert werden, ist essenziell für erfolgreiche Führung. Wie David sollten moderne Menschen die Kunst beherrschen, Brücken zwischen verschiedenen Perspektiven zu bauen, Vertrauen zu schaffen und ein gemeinsames Ziel zu definieren, das über die Summe der Einzelinteressen hinausgeht. Seine Vision für das vereinte Königreich bleibt eine Blaupause – nicht nur für politische, sondern auch für organisatorische und kulturelle Führung in einer komplexen, pluralistischen Welt.

Schlussfolgerung:

Die Geschichte Davids ist nicht nur ein Modell für Führungskräfte, sondern ein Spiegel für jeden Menschen, der sich der Verantwortung stellt, sein eigenes Leben zu gestalten. Im christlichen Glauben sind wir alle aufgerufen, als „Könige, Propheten und Priester“ unseres Lebens zu handeln – nicht im Sinne von Macht und Kontrolle, sondern als treue Verwalter der Gaben, die uns anvertraut wurden. Wie David sind auch wir keine perfekten Menschen, doch genau in dieser Unvollkommenheit liegt das Potenzial für Wachstum, Erneuerung und Berufung.

Christen sind durch ihren Glauben eingeladen, das eigene Leben im Lichte Gottes zu betrachten und mit Integrität und Mut zu führen. Authentizität bedeutet hier, das eigene Herz in Ehrlichkeit vor Gott zu öffnen und aus dieser Wahrheit heraus Entscheidungen zu treffen. Es ist die innere Ausrichtung, die uns befähigt, in einer chaotischen Welt unseren Kurs zu halten – nicht durch äußere Stärke, sondern durch die Klarheit unseres Glaubens. „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne, wie ich’s meine“ (Psalm 139,23) heißt es im Psalm Davids. Er erinnert uns daran, dass die Ehrlichkeit vor Gott die Grundlage für eine echte innere Zufriedenheit ist.

Die Geschichte Davids lehrt uns, dass wir Innovation nicht nur in äußeren Herausforderungen suchen, sondern in der Bereitschaft, unser Denken zu erneuern und uns immer wieder auf Gott auszurichten, Ihm zu vertrauen. Emotionale Intelligenz zeigt sich in der Fähigkeit, mit uns selbst barmherzig zu sein, Fehler einzugestehen und anderen mit Empathie und Verständnis zu begegnen. Und schließlich ist die Bereitschaft, aus Krisen und Schwächen zu lernen, ein Zeichen von Reife und Vertrauen darauf, dass Gott aus jedem Bruch einen Neuanfang schaffen kann. Wie Paulus schreibt: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ (2. Korinther 12,9).

Führung des eigenen Lebens bedeutet, sich täglich der Frage zu stellen: Wie kann ich mein Leben so gestalten, dass es ein Zeugnis für die Liebe und Gnade Gottes wird? In diesem Sinne ist jeder Christ ein Führer – nicht über andere, sondern über sein eigenes Leben, das er im Vertrauen auf Gottes Führung zu einem Spiegel des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe macht. So wird das Leben selbst zur Berufung, ein Werkzeug Gottes in der Welt zu sein, getragen von der Demut und dem Mut Davids.

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