Die Würde im Widerstand:
Armenische Frauen zwischen Epos, Glaube und Zukunft
Von Pfarrer Diradur Sardaryan
Jedes Jahr, wenn der 8. März naht, durchfährt mich dieser besondere Klang – wie ein ferner Glockenschlag, der durch die Zeit hallt und in meinem Innersten widerhallt. Der Internationale Frauentag ist für mich kein bloßes Datum, sondern ein Ruf, ein Echo von Stärke und Schmerz zugleich. In meinem Armenien, wo uralte Mythen und tiefer Glaube die Geschichte wie ein kompliziertes Muster durchweben, tragen die Frauen eine Geschichte mit sich, die so alt ist wie unsere zerklüfteten Berge und so unbändig lebendig wie der Wind, der über das Ararattal hinwegfegt. Von der rätselhaften Tsovinar im Epos David von Sassoun – das ich als Kind verschlang – bis zu den erschöpften Müttern, die ich heute auf den Straßen Jerewans sehe – ihre Reise ist eine, die mich bis ins Mark berührt: voll verbissener Weisheit, stillem Widerstand und dem Traum von Freiheit, der noch immer seiner Erfüllung harrt.
Von Anahit zu Tsovinar: Eine historische Reise
In der vorchristlichen Zeit Armeniens – dieser Epoche, die mir immer wie ein fernes Traumland erschien – leuchtete die Göttin Anahit wie ein goldener Stern über Heimatland Armenien. Nicht bloß ein trockenes Symbol für Fruchtbarkeit, sondern lebendige Verkörperung von Weisheit und Heilung. Meine Großmutter erzählte mir von Königinnen wie Sat’enik, deren Geschichte Moses von Chorene für die Nachwelt festhielt, wie sie mit kluger Hand und scharfem Verstand ihre Reiche lenkten. Doch was verschwiegen wurde: Die patriarchalische Ordnung hielt die meisten Frauen in schmerzhaften, unsichtbaren Ketten gefangen.
Das Epos David von Sassoun – ich habe es mindestens zwanzigmal gelesen und immer neue Facetten entdeckt – zeigt diese verdammte Zwiespältigkeit so deutlich: Tsovinar, diese geheimnisvolle „Meeresstern“-Mutter des Helden David, flüstert mit prophetischer Kraft, wenn sie ihren Sohn zum Kampf für die Heimat anspornt. Ihre Stärke ist so unbestreitbar, und doch bleibt sie eingepfercht in dieser Rolle der Beraterin – ein perfekter Spiegel unserer kulturellen Schizophrenie, die Frauen verehrt und gleichzeitig einschränkt.
Als Armenien 301 getauft wurde, brach eine neue Zeit und eine neue Denkweise an. Die Bibel verkündete ja großspurig: „Es gibt weder Mann noch Frau, denn ihr seid alle eins in Christus Jesus“ (Galater 3:28). Doch welch bittere Ironie – die Kirche spann weiter an patriarchalen Fäden, klammerte sich an Verse wie Epheser 5:22-24, die Unterordnung einforderten. Klar geht es im Neuen Testament um etwas anderes, doch es wurde wörtlich genommen und gebare da ist die große Gefahr, das missverstandene Wort Gottes. Heilige wie Hripsime und Gayane, deren Martyrium mich noch heute erschüttert, wurden zu Ikonen des Mutes hochstilisiert, ohne dass sich an den täglichen Machtverhältnissen auch nur ein Jota geändert hätte.
Später, unter osmanischer Herrschaft verdüsterte sich das Bild noch mehr, bis endlich Schriftsteller wie Raffi im 19. Jahrhundert mit Figuren wie Satenik in Die Wunde Armeniens ein kleines, zitterndes Licht der Bildung und Emanzipation entzündeten – eine Vision, die so quälend lange unerfüllt blieb und manchmal noch heute wie ein ferner Traum erscheint.
Zwischen Tradition und Traum:
Die Gegenwart
Im Armenien von heute – ja, 2025, und manchmal frage ich mich, ob sich wirklich so viel verändert hat – begegne ich immer wieder jungen Frauen wie Ani (name geändert) aus Jerewan. Sie erzählen mir von Träumen, die nicht erfüllt werden können, weil die Gesellschaft diese Träume aus mehreren Gründen nicht zulässt. Ihre Augen funkelten dabei vor unterdrückter Wut und verzweifelter Sehnsucht, während ihre Finger nervös mit der Kaffeetasse spielten.
Die nackten Zahlen machen diesen täglichen Kampf erschreckend greifbar: Über 55% der Hochschulabsolventen sind Frauen (UNESCO-Bericht 2023, den ich für meine Forschung durchgearbeitet habe), doch ihr Lohn liegt hartnäckig 20-30% unter dem der Männer (UN Women 2024). Und das ist nur die Spitze des Eisbergs – häusliche Gewalt überschattet nach neuesten Erhebungen zwischen 18 und 25% der Familien, oft verborgen hinter sorgfältig verschlossenen Türen und diesem höflichen Schweigen, das mich wahnsinnig macht.
Narine Abgaryan – deren Bücher zerfleddert auf meinem Nachttisch liegen – fängt diesen Zwiespalt in ihrer Prosa so unnachahmlich ein, als ob sie zusammenfassend sagt: „Die Tradition ist ein Mantel, der wärmt und doch erstickt“ (Vom Himmel fielen drei Äpfel, 2015). Ihre zerrissenen Figuren ringen mit der erdrückenden Last einer Geschichte, die wie ein schwerer Stein auf ihren Schultern lastet, während die Welt um sie herum nach Gleichheit schreit.
Die besondere Herausforderung Armeniens: Hier kämpfen Frauen nicht nur gegen verknöcherte Strukturen, sondern gegen ein vertracktes kulturelles Erbe, das sie gleichzeitig auf ein Podest hebt und mit unsichtbaren Seilen fesselt – diese verwirrende Doppelbotschaft, die ich seit meiner Kindheit spüre und die mich manchmal fast zerreißt.
Die Kirche: Hüterin der Würde
oder der Ordnung?
Die Armenische Apostolische Kirche steht heute an einem Scheideweg. Historisch hat sie oft genug die althergebrachte Ordnung zementiert, aber es gab auch diese unerwarteten Lichtblicke: 1917 wagte Katholikos Georg V. den mutigen Schritt und unterstützte das Frauenwahlrecht – ein Wunder, in einer turbulenten Zeit!
Bei meinen theologischen Studien bin ich immer wieder über das faszinierende Konzept der Imago Dei gestolpert: „Gott schuf den Menschen als sein Abbild“ (Genesis 1:27). Dieser Gedanke lässt mich nie in Ruhe: Wenn wir alle – Männer wie Frauen – Gottes Ebenbild tragen, wieso um alles in der Welt dann diese hartnäckige Ungleichheit? Gregor von Nyssa – dieser brillante Kopf – sah darin einen flammenden Ruf zur Gerechtigkeit, und Martin Bubers Dialogprinzip mahnt unmissverständlich: Nur in echter Begegnung auf Augenhöhe kann wahre Gleichheit aufblühen.
Die Kirche könnte heute so viel mehr sein als nur eine Hüterin verstaubter Traditionen. Sie könnte Bildung fördern, Gewalt beim Namen nennen, Frauen in besonderer Art fördern, wie sie das immer wieder im Laufe der Geschichte gemacht hat, um zu zeigen, sie kann das, und so zur tragfähigen Brücke in eine bessere Zukunft werden.
Ein Funke Hoffnung:
Wege nach vorn
Die Zukunft armenischer Frauen – unsere Zukunft! – glimmt in den winzigen Funken konkreter, alltäglicher Maßnahmen. Bildung ist der Schlüssel, die Axt, die das gefrorene Meer in uns aufbricht: Schulen, die nicht nur Wissen vermitteln, sondern Gleichberechtigung vorleben, können verkrustete Rollenbilder sprengen. Die Kirche – ja, auch sie! – könnte mit NGOs und staatlichen Stellen endlich effektive Schutznetze knüpfen – gegen die Gewalt, für echte Chancen.
Wie Tsovinar, die mit stillem Mut und kluger Beharrlichkeit handelte, können wir Frauen unsere Geschichte neu schreiben, Zeile für Zeile. Silva Kaputikyan – deren zerlesene Gedichtbände mich immer begleiten – dichtete einst: „Die Berge schweigen nicht, wenn der Wind sie ruft“ (An meine Heimat, 1960er). Dieser Wind weht heute stärker denn je – getragen von einem Glauben, der sich wandeln kann, einer Kultur im Umbruch und diesem unbeugsamen, segensreichen Willen zur Veränderung, den ich in den Augen so vieler junger Frauen sehe.
Der 8. März ist für mich kein abstrakter Gedenktag, kein leeres Ritual – er pulsiert in den Stimmen der Frauen um mich herum, in meiner eigenen Stimme. Von der mythischen Anahit über die unbeugsame Hripsime bis zur zweifelnden Ani aus dem Café: Ihre Würde ist so unglaublich echt, so greifbar – aber sie braucht unsere Hände, unsere Stimmen, unsere Herzen.
Manchmal, wenn ich abends auf meinem Balkon stehe und über das Lichtermeer der Natur blicke, denke ich an Zabel Yesayans zeitlose Worte, die mich nicht loslassen: „Freiheit ist kein Geschenk, das vom Himmel fällt, sondern ein Kampf, den wir Schulter an Schulter gewinnen“. Möge dieser Tag uns alle – nicht nur die Frauen – anspornen, endlich etwas zu verändern: sei es durch das Fördern von Bildung, das Schaffen von sicheren Räumen oder einfach durch die Bereitschaft, alte Überzeugungen radikal zu überdenken.