Von der Schöpfung zur Auferstehung:
Die Heilung des blinden Bartimäus –
Sehen mit den Augen des Glaubens
4. Woche, Dienstag (25. März 2025):
Biblische Lesung für den Tag:
Markus 10:46-52; Jesaja 42:5-7
Das Paradox des sehenden Blinden
„Sie kamen nach Jericho. Als Jesus mit seinen Jüngern und einer großen Menschenmenge Jericho wieder verließ, saß am Weg ein blinder Bettler, Bartimäus, der Sohn des Timäus.“ (Mk 10,46)
Nach gestern, wo wir über das Gleichnis vom barmherzigen Samariter und die Frage „Wer ist mein Nächster?“ nachgedacht haben, betrachten wir heute eine weitere Begegnung Jesu am Wegesrand – dieses Mal nicht ein Gleichnis, sondern ein reales Geschehen, das die tiefe Spannung zwischen äußerem Sehen und innerem Erkennen offenbart.
Die Begegnung mit Bartimäus steht im Markusevangelium an einer Schlüsselstelle – unmittelbar vor dem Einzug Jesu in Jerusalem und damit am Beginn der Passionserzählung. Die Jünger werden bald Zeugen von Jesu Leiden werden, aber werden sie wirklich „sehen“, was geschieht? Werden sie die tiefere Bedeutung von Kreuz und Auferstehung erkennen? Die Heilung des Blinden dient hier als prophetisches Zeichen, das über sich selbst hinausweist auf die wahre geistliche Erleuchtung, die allen Menschen offensteht.
In der armenischen Tradition wird diese Perikope oft im Zusammenhang mit der Fastenzeit betrachtet, weil sie die Bewegung von der Dunkelheit zum Licht, von der Blindheit zur Erkenntnis, vom Wegesrand in die Nachfolge illustriert – eine Bewegung, die der Fastenzeit als Vorbereitung auf das Licht der Auferstehung entspricht. Der armenische Begriff lusavorutʻyun (Erleuchtung), der im Kontext der Taufe verwendet wird, kann auch auf diese spirituelle Sehkraft bezogen werden, die mehr ist als bloßes physisches Sehen.
In unserer vierten Fastenwoche steht diese Heilungsgeschichte als Einladung, unsere eigene geistliche Blindheit zu erkennen und um Heilung zu bitten. Die Fastenzeit ist eine Zeit, in der wir bekennen, dass wir oft nicht wirklich sehen – weder Gott noch unsere Mitmenschen noch uns selbst – und in der wir mit Bartimäus rufen: „Sohn Davids, erbarme dich meiner!“
Die Struktur der Begegnung:
Ein Heilungsdialog
Die Erzählung von der Heilung des Bartimäus hat eine klare dramatische Struktur, die den Weg vom Dunkel zum Licht, von der Isolation zur Gemeinschaft, vom passiven Betteln zur aktiven Nachfolge nachzeichnet:
1. Die Situation am Wegesrand (Vers 46)
Bartimäus wird dreifach charakterisiert: als blind, als Bettler und als „am Weg sitzend“. Diese dreifache Marginalisierung – physisch, sozial und räumlich – betont seine vollständige Ausgrenzung aus der Gemeinschaft. Er kann weder sehen noch für sich selbst sorgen noch mit anderen gehen. Sein Zustand repräsentiert die äußerste Form menschlicher Hilflosigkeit.
Der Name „Bartimäus“ (aramäisch für „Sohn des Timäus“) ist bemerkenswert, da die Evangelien selten Namen von Geheilten nennen. Diese Namensnennung deutet darauf hin, dass Bartimäus später ein bekanntes Mitglied der urchristlichen Gemeinde wurde – ein lebendiges Zeugnis der transformierenden Kraft Christi.
2. Der Schrei nach Erbarmen (Verse 47-48)
„Als er hörte, dass es Jesus von Nazaret war, begann er laut zu rufen: Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir! Viele befahlen ihm zu schweigen. Er aber schrie noch viel lauter: Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!“ (Mk 10,47-48)
Obwohl Bartimäus nichts sehen kann, kann er hören – und was er hört, führt zu einem bemerkenswerten Bekenntnis. Er nennt Jesus „Sohn Davids“ – ein messianischer Titel, der auf Jesus als den verheißenen König aus dem Geschlecht Davids verweist. In seiner Blindheit „sieht“ Bartimäus eine Wahrheit, die vielen Sehenden verborgen bleibt: die wahre Identität Jesu als Messias.
Sein Ruf „Erbarme dich meiner!“ (eleēson me) ist ein Gebetsruf, der in der östlichen liturgischen Tradition zum zentralen Element des sogenannten Jesusgebets geworden ist: „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner, des Sünders.“ Dieser Gebetsruf verbindet das Bekenntnis zur Gottheit Christi mit der Bitte um Erbarmen in einer prägnanten Form, die seit Jahrhunderten das kontemplative Leben der Kirche prägt.
Die Reaktion der Menge – der Versuch, Bartimäus zum Schweigen zu bringen – zeigt, wie oft religiöse und soziale Strukturen den Weg zu Christus versperren können, besonders für die Marginalisierten. Doch Bartimäus lässt sich nicht einschüchtern; er schreit nur noch lauter. Seine Beharrlichkeit ist ein wesentliches Element seines Glaubens.
3. Die Wende: Der Ruf Jesu (Verse 49-50)
„Jesus blieb stehen und sagte: Ruft ihn her! Sie riefen den Blinden und sagten zu ihm: Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich. Da warf er seinen Mantel weg, sprang auf und lief auf Jesus zu.“ (Mk 10,49-50)
In diesem Moment geschieht eine dramatische Wende: Jesus bleibt stehen. Das griechische Wort stas (stehenbleibend) hat hier eine tiefere Bedeutung – es signalisiert Jesu volle Aufmerksamkeit für den Bedürftigen. Das Stehenbleiben Jesu ist ein Akt der Barmherzigkeit, vergleichbar mit dem Akt des Samariters, der anhält, um dem Verwundeten zu helfen.
Bemerkenswert ist, dass Jesus Bartimäus nicht sofort selbst ruft, sondern die Menge, die ihn eben noch zum Schweigen bringen wollte, beauftragt, ihn zu rufen. Damit transformiert er die Gemeinschaft von einer Barriere zu einem Vermittler der Heilung – ein Bild für die Funktion der Kirche, die gerufen ist, andere zu Christus zu führen. In diesem Sinne aber auch eine Gemeinschaft, die den Einzelnen unterstützt die eigenen Fähigkeiten zu entfalten.
Die Reaktion des Bartimäus ist dramatisch: Er wirft seinen Mantel weg, springt auf und kommt zu Jesus. Der Mantel (himation) war mehr als ein Kleidungsstück – für einen Bettler war er Schutz, Schlafstätte und oft einziger Besitz. Ihn wegzuwerfen bedeutet, die letzte Sicherheit aufzugeben im Vertrauen auf Christus. Das Wegwerfen des Mantels illustriert die radikale Natur des Glaubens, der bereit ist, alles hinter sich zu lassen, aber auch in sich Kraft finden selbst aktiv zu werden.
4. Das Zentrum: Der Dialog mit Jesus (Verse 51-52a)
„Jesus fragte ihn: Was willst du, dass ich dir tue? Der Blinde antwortete: Rabbuni, ich möchte sehen können. Da sagte Jesus zu ihm: Geh! Dein Glaube hat dich gerettet.“ (Mk 10,51-52a)
Die Frage Jesu – „Was willst du, dass ich dir tue?“ – erscheint zunächst überflüssig. Ist es nicht offensichtlich, was ein Blinder möchte? Doch diese Frage hat eine tiefere Dimension: Sie respektiert die Freiheit und Würde des Bartimäus und lädt ihn ein, seine Sehnsucht konkret auszusprechen. Jesus heilt nicht ohne die aktive Beteiligung des zu Heilenden.
Die Antwort des Bartimäus – „Rabbuni, ich möchte sehen können“ – ist direkt und klar. Er verwendet den aramäischen Begriff Rabbuni (mein Meister), der eine besondere Intimität und Ehrfurcht ausdrückt. Während er Jesus zuvor öffentlich als „Sohn Davids“ bekannt hat, spricht er ihn nun persönlich als seinen Meister an – ein Hinweis auf die Bereitschaft zur Nachfolge.
Jesu Antwort – „Dein Glaube hat dich gerettet“ – verbindet Heilung und Heil. Das griechische Wort sesōken (hat gerettet/geheilt) umfasst beides: physische Heilung und spirituelles Heil. Es ist derselbe Begriff, den Jesus in anderen Heilungsgeschichten verwendet, etwa bei der blutflüssigen Frau (Mk 5,34). Diese Formulierung verdeutlicht, dass die physische Heilung ein Zeichen für die tiefere, spirituelle Heilung ist.
5. Das Ergebnis: Sehen und Nachfolge (Vers 52b)
„Im gleichen Augenblick konnte er sehen und er folgte Jesus auf seinem Weg.“ (Mk 10,52b)
Das unmittelbare Resultat ist die Wiederherstellung des Sehvermögens. Doch das Markusevangelium betont sofort die Konsequenz dieser Heilung: Bartimäus folgt Jesus „auf seinem Weg“ (en tē hodō). Dieser „Weg“ ist mehr als eine Straße – er ist der Weg nach Jerusalem, der Weg zum Kreuz, der Weg der Nachfolge.
Die Perikope endet mit diesem Bild der Nachfolge und zeigt damit die vollständige Transformation des Bartimäus: vom blinden Bettler, der am Wegesrand sitzt, zum sehenden Jünger, der Jesus auf seinem Weg folgt. Diese Transformation illustriert den gesamten Prozess der christlichen Initiation: vom Ruf über die Heilung bis zur Nachfolge.
Theologische Dimensionen der Perikope
Die Geschichte von Bartimäus ist mehr als ein Heilungsbericht – sie ist eine vielschichtige theologische Erzählung, die verschiedene Dimensionen des christlichen Glaubens beleuchtet:
1. Die christologische Dimension: Jesus als messianischer Heiler
In diesem Wunder offenbart sich Jesus als der verheißene Messias, der gemäß den prophetischen Erwartungen „die Augen der Blinden öffnet“ (Jes 42,7; 35,5). Die Heilung des Blinden ist kein isoliertes Wunder, sondern Teil der messianischen Zeichen, die Jesajas Vision erfüllen: „Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben werden geöffnet“ (Jes 35,5).
Bartimäus erkennt diese messianische Identität, wenn er Jesus als „Sohn Davids“ anruft – ein Titel, der auf die königliche Abstammung und messianische Würde Jesu verweist. Diese Anrufung ist zugleich Bekenntnis und Bitte: Sie bekennt die Identität Jesu und bittet um sein königliches Erbarmen.
Die Kirchenväter, besonders Ambrosius von Mailand (ca. 340-397), sahen in der Heilung des Blinden ein Zeichen für die umfassendere Mission Christi, die Menschheit aus der Blindheit der Sünde und Unwissenheit zu retten. Für Ambrosius ist Christus das wahre Licht (verum lumen), das sowohl physische als auch spirituelle Blindheit heilt.
2. Die soteriologische Dimension: Glaube als Weg zur Rettung
Zentral in der Perikope steht die Aussage Jesu: „Dein Glaube hat dich gerettet.“ Diese Formulierung verbindet die Heilung mit dem Glauben des Geheilten – nicht als magische Formel, sondern als Ausdruck der Beziehung zwischen göttlichem Handeln und menschlicher Antwort.
Der Glaube des Bartimäus zeigt sich in mehrfacher Weise:
- In seinem Bekenntnis zu Jesus als „Sohn Davids“
- In seiner beharrlichen Bitte trotz Widerstand
- In seiner Bereitschaft, seinen Mantel (seine Sicherheit) aufzugeben
- In seiner klaren Artikulation dessen, was er von Jesus erbittet
- In seiner sofortigen Nachfolge nach der Heilung
Diese Aspekte des Glaubens zeigen, dass wahrer Glaube mehr ist als intellektuelle Zustimmung – er ist Bekenntnis, Beharrlichkeit, Risikobereitschaft, klare Sehnsucht und aktive Nachfolge.
In der armenischen Tradition betont der heilige Nerses Shnorhali (1102-1173) in seinen Gebeten immer wieder die Verbindung zwischen Glauben und Heilung, zwischen dem vertrauensvollen Rufen zu Christus und der Erfahrung seiner erlösenden Kraft.
3. Die ekklesiologische Dimension: Von der Isolation zur Gemeinschaft
Die Geschichte des Bartimäus zeichnet auch einen ekklesiologischen Weg nach – den Weg von der Isolation am Rand der Gesellschaft in die Gemeinschaft der Nachfolger Jesu. Diese Bewegung symbolisiert den Prozess der Eingliederung in die Kirche, wie er in den Initiationssakramenten (Taufe, Firmung/Myron-Salbung, Eucharistie) vollzogen wird.
Bemerkenswert ist die Rolle der Gemeinschaft in diesem Prozess. Zunächst ist die Menge ein Hindernis, das Bartimäus vom Kontakt mit Jesus abhält. Doch auf Jesu Geheiß wird dieselbe Gemeinschaft zum Vermittler, der Bartimäus zu Jesus ruft und ihn ermutigt. Dies entspricht der Rolle der Kirche, die Menschen zu Christus führen und im Glauben ermutigen soll.
Die armenische Liturgie, besonders in den Taufgebeten, greift dieses Motiv der Bewegung vom Dunkel zum Licht, von der Isolation zur Gemeinschaft auf und versteht die sakramentale Initiation als eine „Erleuchtung“ (lusavorutʻyun), die analog zur Öffnung der Augen des Blinden ist.
Die Typologie des Sehens im geistlichen Leben
Die Heilung der Blindheit ist in der christlichen Tradition zu einer grundlegenden Metapher für den geistlichen Weg geworden. Diese Typologie entfaltet verschiedene Dimensionen des „Sehens“ im geistlichen Leben:
1. Die paradoxe Blindheit der Sehenden
Eine der tiefsten Paradoxien der Evangelien ist, dass oft die physisch Blinden wie Bartimäus geistlich sehend sind, während die physisch Sehenden geistlich blind bleiben. Jesus selbst formuliert dieses Paradox: „Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen: damit die Blinden sehend und die Sehenden blind werden“ (Joh 9,39).
Augustinus (354-430) entfaltet in seinen Predigten dieses Paradox: Die wahre Blindheit ist nicht die physische, sondern die geistliche – die Unfähigkeit, die Wahrheit über Gott, die Welt und sich selbst zu erkennen. Der physisch Blinde, der seine Blindheit anerkennt und um Heilung bittet, ist in einem tieferen Sinne sehender als jene, die ihre geistliche Blindheit leugnen.
In der armenischen spirituellen Tradition wird dieses Paradox besonders in den Schriften des heiligen Gregor von Narek (951-1003) reflektiert. Sein „Buch der Klagen“ (Matean Voghbergutean) ist durchdrungen von dem Bewusstsein der inneren Blindheit und der Bitte um die erleuchtende Gnade Gottes.
2. Die Stufen der geistlichen Erkenntnis
Die Kirchenväter unterscheiden verschiedene Stufen oder Arten des Sehens im geistlichen Leben:
- Physisches Sehen (horasis): Die grundlegende Fähigkeit, die materielle Welt wahrzunehmen.
- Intellektuelles Sehen (theoria): Die Fähigkeit, Wahrheit zu erkennen und zu verstehen.
- Intuitives Sehen (gnosis): Die unmittelbare Erkenntnis der tieferen Wirklichkeit.
- Kontemplatives Sehen (theoptia): Die mystische Schau Gottes.
In dieser Typologie ist die Heilung des Bartimäus mehr als die Wiederherstellung des physischen Sehens – sie ist der Beginn eines Weges zur höheren Erkenntnis, zur kontemplativen Schau Gottes.
Der heilige Gregor von Nyssa (ca. 335-394) beschreibt in seiner Schrift „Das Leben des Mose“ diesen Aufstieg von der physischen zur kontemplativen Schau als einen lebenslangen Prozess der Reinigung und Erleuchtung, der in der mystischen Vereinigung mit Gott gipfelt.
3. Das Sehen als Gabe und Aufgabe
Die Geschichte des Bartimäus zeigt, dass das Sehen sowohl Gabe als auch Aufgabe ist. Als Gabe ist es ein unverdientes Geschenk der göttlichen Barmherzigkeit; als Aufgabe fordert es die Verantwortung, das Gesehene zu bezeugen und diesem Zeugnis entsprechend zu leben.
Der Kirchenvater Johannes Chrysostomos (ca. 349-407) betont in seinen Predigten diese doppelte Dimension des Sehens. Er ermahnt seine Zuhörer, nicht um des Sehens willen zu sehen, sondern um zu handeln – um das erkannte Licht in die Welt zu tragen.
In der armenischen Tradition wird diese Verantwortung des Sehenden besonders im Begriff des Zeugnisses (vkayutʻyun) gefasst. Der Geheilte ist berufen, Zeuge des empfangenen Lichts zu sein – in Wort und Tat die Wahrheit zu bezeugen, die er erkannt hat.
Blindheit und Erkenntnis
Die Geschichte des Bartimäus wirft fundamentale philosophische Fragen nach dem Wesen des Sehens, der Erkenntnis und der Wahrheit auf:
1. Das platonische Höhlengleichnis und die christliche Erleuchtung
Eine der berühmtesten philosophischen Metaphern für den Weg vom Dunkel zum Licht ist Platons Höhlengleichnis. Platon (ca. 428-348 v. Chr.) beschreibt in seiner „Politeia“ Menschen, die in einer Höhle leben und nur Schatten sehen, die sie für die Wirklichkeit halten. Der Weg zur wahren Erkenntnis führt sie aus der Höhle ans Licht der Sonne, die für das Gute schlechthin steht.
Diese Metapher hat bemerkenswerte Parallelen zur christlichen Konzeption der geistlichen Erleuchtung, wie sie in der Heilung des Bartimäus zum Ausdruck kommt. In beiden Fällen geht es um den Übergang von einer beschränkten, illusionären Wahrnehmung zur Erkenntnis der wahren Wirklichkeit.
Doch es gibt auch wesentliche Unterschiede: Während Platon die Erleuchtung als rein intellektuellen Prozess beschreibt, betont die christliche Tradition die Rolle der Gnade, des Glaubens und der persönlichen Beziehung zu Christus, dem wahren Licht. Die Heilung des Bartimäus ist nicht primär eine intellektuelle Aufklärung, sondern eine ganzheitliche Transformation durch die Begegnung mit Christus.
2. Kierkegaards existenzieller Sprung und der Glaube des Bartimäus
Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard (1813-1855) hat in seinem Werk „Furcht und Zittern“ den Glauben als einen „Sprung“ beschrieben – als eine existenzielle Entscheidung, die über die Grenzen des rationalen Verstehens hinausgeht. Dieser Sprung erfordert die Bereitschaft, Sicherheiten aufzugeben und sich dem Unbekannten anzuvertrauen.
In der Geschichte des Bartimäus finden wir ein lebendiges Beispiel für diesen existenziellen Sprung des Glaubens. Sein Wegwerfen des Mantels – seines einzigen Besitzes und seiner Sicherheit – ist ein physisches Zeichen für den inneren Sprung des Vertrauens. Es ist ein Akt, der nicht aus rationaler Berechnung, sondern aus existenziellem Vertrauen entspringt.
Kierkegaard würde in Bartimäus einen „Ritter des Glaubens“ erkennen – einen Menschen, der bereit ist, alles zu riskieren im Vertrauen auf Gott. Diese existenzielle Dimension des Glaubens steht im Zentrum der christlichen Erfahrung und wird in der Heilungsgeschichte anschaulich dargestellt.
3. Levinas und die Ethik der Begegnung
Der jüdische Philosoph Emmanuel Levinas (1906-1995) hat in seinen Werken die Bedeutung des „Antlitzes des Anderen“ für die Ethik betont. Für Levinas ist die Begegnung mit dem Antlitz des Anderen der Ursprung aller ethischen Verpflichtung – eine Begegnung, die vor aller Theorie und allem Verstehen liegt.
Die Begegnung zwischen Jesus und Bartimäus kann in dieser Perspektive als paradigmatische ethische Begegnung verstanden werden. Jesus sieht das Antlitz des Bartimäus – nicht nur seine Blindheit oder sein soziales Stigma, sondern seine menschliche Würde und seinen Anspruch auf Anerkennung. In seiner Frage „Was willst du, dass ich dir tue?“ respektiert Jesus die Autonomie und Subjektivität des Bartimäus.
Diese Ethik der Begegnung erinnert uns daran, dass wahres Sehen nicht nur das physische oder intellektuelle Erfassen der Welt bedeutet, sondern die Fähigkeit, den Anderen in seiner irreduziblen Andersheit und Würde wahrzunehmen.
Praktische Übungen für die Fastenzeit
Die Geschichte des Bartimäus lädt uns ein, unsere eigene geistliche Blindheit zu erkennen und um Heilung zu bitten. Hier sind einige konkrete Übungen für diese Woche der Fastenzeit:
1. Das Gebet des Bartimäus
Mache das Gebet des Bartimäus – „Jesus, Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ – zu deinem täglichen Begleiter. In der orthodoxen Tradition hat sich dieses Gebet zum sogenannten Jesusgebet entwickelt: „Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner, des Sünders.“
Versuche, dieses Gebet regelmäßig zu wiederholen – vielleicht bei bestimmten Tätigkeiten wie dem Gehen, dem Warten oder vor dem Einschlafen. Es kann zu einem „Gebet des Herzens“ werden, das dich durch den Tag begleitet und deine Aufmerksamkeit immer wieder auf Christus lenkt.
Diese Praxis der beständigen Anrufung kann dir helfen, wie Bartimäus beharrlich im Glauben zu bleiben, auch wenn innere oder äußere Hindernisse auftauchen.
2. Die Übung des Loslassens
So wie Bartimäus seinen Mantel wegwarf, um ungehindert zu Jesus zu gelangen, können wir uns fragen: Was müsste ich „wegwerfen“, um freier in der Nachfolge Christi zu sein? Welche Sicherheiten, Gewohnheiten oder Bindungen hindern mich daran, ganz auf Christus zu vertrauen?
Wähle in dieser Woche eine konkrete Sache aus, von der du dich bewusst lösen möchtest – sei es eine materielle Bindung, eine zeitraubende Gewohnheit oder eine innere Einstellung, die dich von Gott fernhält. Dieser Akt des Loslassens kann ein konkretes Zeichen deines Vertrauens auf Christus sein.
3. Die kontemplative Lektüre der Heilungsgeschichte
Nimm dir Zeit für eine langsame, meditative Lektüre der Geschichte des Bartimäus. Lies den Text mehrmals und verweile bei den einzelnen Szenen. Stell dir die Situation lebhaft vor – die staubige Straße, die Menschenmenge, den blinden Bettler am Wegrand, das erste Hören der Stimme Jesu.
Versuche, dich in die verschiedenen Personen der Geschichte hineinzuversetzen:
- Wie fühlt sich Bartimäus in seiner Blindheit und Isolation?
- Was empfindet er, als er hört, dass Jesus vorbeikommt?
- Wie erlebt er den Moment, als er seinen Mantel wegwirft und zu Jesus eilt?
- Wie verändert sich sein Leben, nachdem er sehen kann und Jesus nachfolgt?
Diese Form der kontemplativen Lektüre, die in der ignatianischen Tradition als „Betrachtung mit den Sinnen“ bekannt ist, kann dir helfen, die Geschichte nicht nur intellektuell zu verstehen, sondern existenziell zu verinnerlichen.
4. Die Praxis des bewussten Sehens
Nimm dir vor, an einem Tag dieser Woche besonders aufmerksam zu sein für das, was du siehst. Betrachte die Menschen und Dinge um dich herum nicht nur flüchtig, sondern mit bewusster Aufmerksamkeit. Versuche, in allem die Spuren der göttlichen Schönheit und Weisheit zu erkennen.
Diese Übung kann dir helfen, die Gabe des Sehens neu zu schätzen und sie als Weg zur Gotteserkenntnis zu nutzen, gemäß dem Wort des Apostels Paulus: „Seit Erschaffung der Welt wird seine unsichtbare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen, seine ewige Macht und Gottheit“ (Röm 1,20).
Gebet um geistliche Erleuchtung
Herr Jesus Christus, Licht der Welt,
du hast die Augen des Bartimäus geöffnet
und ihn aus der Dunkelheit ins Licht geführt.
Auch ich sitze oft am Wegesrand,
blind für deine Gegenwart und taub für deinen Ruf.
Öffne die Augen meines Herzens,
dass ich dich erkenne als meinen Herrn und Erlöser.
Gib mir den Mut des Bartimäus,
nach dir zu rufen, auch wenn andere mich zum Schweigen bringen wollen,
und alles loszulassen, was mich von dir trennt.
Heile meine geistliche Blindheit –
meine Selbsttäuschung, meinen Stolz, meine Gleichgültigkeit.
Lass mich sehen mit den Augen des Glaubens,
die Schönheit deiner Schöpfung,
die Not meiner Mitmenschen
und den Weg, den ich in deiner Nachfolge gehen soll.
In dieser Zeit der Fastenzeit
führe mich vom Dunkel ins Licht,
von der Verzweiflung zur Hoffnung,
vom Tod zum Leben.
Damit ich wie Bartimäus
nicht nur sehe, sondern dir folge
auf dem Weg zum Kreuz und zur Auferstehung.
Amen.
Vom Wegesrand zur Nachfolge
Die Geschichte des Bartimäus endet mit den einfachen, aber tiefgründigen Worten: „Im gleichen Augenblick konnte er sehen und er folgte Jesus auf seinem Weg“ (Mk 10,52b). Diese Worte fassen den gesamten Weg des Glaubens zusammen – vom Dunkel zum Licht, von der Isolation zur Gemeinschaft, vom passiven Sitzen am Wegesrand zur aktiven Nachfolge.
In der vierten Woche unserer Fastenreise sind auch wir eingeladen, diesen Weg zu gehen. Die Fastenzeit ist eine Zeit der geistlichen Heilung, in der wir unsere Blindheit erkennen und um das Licht Christi bitten. Es ist eine Zeit, in der wir bereit sein sollten, unseren „Mantel“ wegzuwerfen – alles, was uns hindert, zu Christus zu eilen.
Die Heilung, um die wir bitten, ist mehr als die Wiederherstellung des physischen Sehvermögens – sie ist die Öffnung der Augen des Herzens für die göttliche Wirklichkeit. Der Apostel Paulus betet für die Epheser: „Er erleuchte die Augen eures Herzens, damit ihr versteht, zu welcher Hoffnung ihr durch ihn berufen seid“ (Eph 1,18). Diese Erleuchtung des inneren Auges ist das tiefste Ziel des geistlichen Lebens.
Bartimäus lehrt uns, dass der Weg zur Erleuchtung mit dem Bekenntnis der eigenen Blindheit beginnt. Nur wer seine Blindheit erkennt und bekennt, kann wie er rufen: „Sohn Davids, erbarme dich meiner!“ Der Weg führt weiter über die Bereitschaft, Sicherheiten aufzugeben – symbolisiert durch das Wegwerfen des Mantels – bis hin zur aktiven Nachfolge auf dem Weg Jesu.
In diesem Sinne ist die Geschichte des Bartimäus eine Parabel für die gesamte Fastenzeit: Sie beginnt mit dem Bekenntnis unserer Blindheit am Barekendan, führt uns durch einen Prozess der Reinigung und Loslösung und mündet in die Nachfolge des gekreuzigten und auferstandenen Christus in der Karwoche und der Osterzeit.
Pfr. Dr. Diradur Sardaryan
Die armenische Tradition hat diesen Weg vom Dunkel zum Licht besonders in der Osterliturgie eindrucksvoll gestaltet. Die Kirche beginnt die Osternacht in Dunkelheit, und mit dem Ruf „Christus ist auferstanden!“ wird das Licht entzündet und von Kerze zu Kerze weitergegeben – ein sichtbares Zeichen für die Erleuchtung, die von Christus ausgeht und alle Dunkelheit überwindet.