Von der Schöpfung zur Auferstehung:
Gottes Bund und Verheißung
2. Woche, Montag (10. März 2025):
Biblische Lesung für den Tag:
Genesis 12:1-9; Hebräer 11:8-12
Der Ruf Abrahams als existenzieller Aufbruch
„Zieh fort aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft und aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde.“ (Gen 12,1) Mit diesen Worten beginnt ein neues Kapitel der Heilsgeschichte – der Übergang von der universellen Urgeschichte (Gen 1-11) zur partikularen Geschichte des Gottesvolkes. Der Ruf, den Abraham empfängt, ist nicht nur eine geografische Ortsveränderung, sondern ein radikaler existenzieller Aufbruch, eine fundamentale Neuorientierung des Seins.
In der Tradition der Kirchenväter wird dieser Ruf als Paradigma jeder geistlichen Berufung verstanden. Der heilige Gregor von Nyssa (ca. 335-394) interpretiert in seiner Schrift „Über das Leben des Mose“ den Auszug Abrahams als Archetyp der geistlichen Reise: „Wir müssen alle aus dem Land der Chaldäer ausziehen – aus der Knechtschaft der sichtbaren Wirklichkeit, um in das Land der Verheißung zu gelangen.“
Nachdem wir in der ersten Woche die göttliche Schöpfungsordnung, den Fall des Menschen und die Wiederherstellung durch die Taufe betrachtet haben, folgen wir nun Abraham auf seinem Weg des Vertrauens. Die Fastenzeit ist in ihrer spirituellen Struktur selbst ein Exodus – ein Auszug aus der Knechtschaft der Leidenschaften in die Freiheit der Kinder Gottes.
Theologie des Bundes: Die Initiative Gottes
und die Antwort des Menschen
„Ich will dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein.“ (Gen 12,2) Dieser Verheißung liegt eine fundamentale theologische Wahrheit zugrunde: Der Bund ist primär Gottes Initiative, ein Akt seiner freien Gnade. Gott spricht Abraham an, bevor dieser irgendeine verdienstvolle Handlung vollbracht hat.
Der heilige Johannes Chrysostomus (ca. 349-407) hebt in seinen Homilien zur Genesis hervor: „Beachte die Großzügigkeit des Herrn: Abraham hat noch nichts getan, und doch empfängt er Verheißungen, die über alles Erwartbare hinausgehen.“ Diese theologische Einsicht durchzieht die gesamte Schrift: Gottes Erwählung geht dem menschlichen Handeln voraus, die göttliche Gnade ist immer das Primäre.
Dennoch ist der Bund keine einseitige Angelegenheit. Er fordert eine Antwort des Menschen – jene radikale Antwort, die Abraham gibt: „Da zog Abram weg, wie der HERR ihm gesagt hatte“ (Gen 12,4). Der Kirchenvater Ephräm der Syrer (ca. 306-373) kommentiert: „Abrahams Glaube zeigte sich nicht in Worten, sondern in der Bereitschaft, alles zu verlassen. Er verließ das Sichtbare für das Unsichtbare, das Gegenwärtige für das Zukünftige.“
Diese Dynamik von göttlicher Initiative und menschlicher Antwort strukturiert den gesamten Heilsweg. Der heilige Maximus der Bekenner (580-662) spricht von der „Synergie“ – dem Zusammenwirken göttlicher Gnade und menschlicher Freiheit. Die Fastenzeit ist eine Zeit, in der wir unsere Freiheit neu auf Gott ausrichten, indem wir wie Abraham auf seinen Ruf antworten.
Die Epistemologie des Glaubens:
Wissen und Vertrauen
„Er zog aus, ohne zu wissen, wohin er kommen würde.“ (Hebr 11,8) Dieses Nichtwissen ist kein Mangel, sondern wesentliches Element des Glaubens. Der heilige Basilius der Große (330-379) unterscheidet zwischen dem Wissen „kata gnōsin“ (durch Erkenntnis) und dem Wissen „kata pistin“ (durch Glauben). Während das erste auf empirischer Beobachtung oder logischer Deduktion beruht, gründet das zweite auf der Beziehung zu dem, der verheißt.
Der Philosoph Søren Kierkegaard (1813-1855) beschreibt diesen „Sprung des Glaubens“ als eine Bewegung über die Grenzen des rationalen Diskurses hinaus. Nicht als Irrationalismus, sondern als Transzendenz der bloßen Rationalität. In seinem Werk „Furcht und Zittern“ beschreibt er Abraham als „Ritter des Glaubens“, der im Vertrauen auf Gott sogar bereit ist, seinen Sohn zu opfern – eine Paradoxie, die die Grenzen des Verstandes überschreitet.
In unserer modernen Welt, die von der cartesianischen Suche nach absoluter Gewissheit geprägt ist, erscheint der Glaube Abrahams als Anachronismus. Doch vielleicht ist gerade diese „Torheit des Glaubens“ (1 Kor 1,18) die wahre Weisheit in einer Welt, die an ihrer eigenen Hybris zu zerbrechen droht. Die Fastenzeit lädt uns ein, wie Abraham den Mut aufzubringen, uns dem Unbekannten anzuvertrauen.
Die temporale Struktur der Verheißung:
Geduld und Hoffnung
„Ein Land, das ich dir zeigen werde…“ (Gen 12,1) Die Verheißung ist zukunftsgerichtet, sie schafft einen Horizont der Erwartung. Abraham erhält die volle Erfüllung der Verheißung nicht zu seinen Lebzeiten. Der Hebräerbrief reflektiert: „Im Glauben sind diese alle gestorben, ohne das Verheißene erlangt zu haben; sie haben es nur von fern gesehen und gegrüßt“ (Hebr 11,13).
Augustinus (354-430) entwickelt in seinem Werk „Vom Gottesstaat“ eine Theologie der Zeit, die zwischen dem „saeculum“ (der irdischen Zeit) und der „aeternitas“ (der göttlichen Ewigkeit) unterscheidet. Die Verheißungen Gottes, so Augustinus, überspannen diese beiden Zeitmodi: Sie beginnen in der Geschichte, finden aber ihre Vollendung in der Ewigkeit.
Diese temporale Struktur der Verheißung fordert vom Gläubigen zwei fundamentale Tugenden: Geduld (hypomonē) und Hoffnung (elpis). Der heilige Isaak der Syrer (7. Jh.) schreibt: „Die Geduld ist die Mutter aller Tugenden; sie ist die enge Pforte, von der der Herr gesprochen hat, dass sie zum Leben führt.“ Die Hoffnung wiederum ist nach Johannes von Damaskus (ca. 650-754) „das zuversichtliche Warten auf die unsichtbaren Güter“.
Die Fastenzeit ist eine Einladung, diese beiden Tugenden einzuüben – geduldig auszuharren in der gegenwärtigen Entbehrung und hoffnungsvoll auf die österliche Freude zu blicken, die uns verheißen ist.
Die kosmische Dimension des Bundes
„Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen.“ (Gen 12,3) Diese Verheißung offenbart die universelle Dimension des Bundes. Obwohl Gott einen partikularen Weg mit Abraham und seinen Nachkommen beginnt, zielt dieser auf einen universellen Segen für alle Völker.
Der Apostel Paulus sieht in dieser Verheißung bereits die Ankündigung des Evangeliums: „Die Schrift sah voraus, dass Gott die Heiden durch den Glauben gerecht macht. Deshalb verkündete sie dem Abraham im Voraus: Durch dich sollen alle Völker Segen erlangen.“ (Gal 3,8)
Der heilige Kyrill von Alexandrien (ca. 376-444) interpretiert diesen universellen Segen als Teilhabe aller Völker an der göttlichen Natur – eine Teilhabe, die durch die Menschwerdung Christi, des Nachkommens Abrahams, ermöglicht wird. In der Kirchenvätertradition wird Abraham so zum Vorbild für die Kirche, die berufen ist, Segen für die Welt zu sein.
Die Fastenzeit ist eine Zeit, in der wir unsere eigene Berufung zum Segen für andere erneuern. Wir fasten nicht nur für uns selbst, sondern solidarisch mit der ganzen leidenden Schöpfung. Der russische Theologe Sergius Bulgakov (1871-1944) spricht von der „kosmischen Liturgie“ – der Berufung der Kirche, die gesamte Schöpfung zur Eucharistie zu machen.
Die Existenzialität des Vertrauens
Die Berufung Abrahams konfrontiert uns mit einer fundamentalen existenziellen Frage: Sind wir bereit, die Sicherheit des Vertrauten für die Unsicherheit des Verheißenen aufzugeben? Können wir wie Abraham „ins Unbekannte hinein“ glauben?
Der jüdische Philosoph Martin Buber (1878-1965) unterscheidet zwischen der „Ich-Es-Beziehung“, in der wir die Welt zu kontrollieren versuchen, und der „Ich-Du-Beziehung“, in der wir uns auf ein Gegenüber einlassen. Der Glaube Abrahams ist paradigmatisch für diese „Ich-Du-Beziehung“ zu Gott – er versucht nicht, Gott zu verstehen oder zu kontrollieren, sondern antwortet auf seinen Ruf.
Der französische Philosoph Emmanuel Levinas (1906-1995) entwickelt diesen Gedanken weiter: Die Begegnung mit dem Anderen ist immer ein Ruf zur Verantwortung, der unsere autonome Existenz in Frage stellt. In seiner Interpretation der Berufung Abrahams sieht er das Paradigma ethischer Existenz: „Hier bin ich“ – die Antwort, die Abraham gibt, als Gott ihn ruft (Gen 22,1).
Die Fastenzeit fordert uns heraus, unsere eigene Autonomie zu relativieren und uns wie Abraham rufen zu lassen – aus unseren Sicherheiten heraus in das Land, das Gott uns zeigen will.
Praktische Übungen des Vertrauens für die Fastenzeit
Übung der Loslösung: Identifiziere in deinem Leben einen Bereich, in dem du zu sehr an Sicherheiten hängst – sei es materielle Besitztümer, bestimmte Beziehungen oder festgefahrene Überzeugungen. Übe dich darin, diesen Bereich bewusst in Gottes Hände zu legen, indem du täglich ein Gebet der Hingabe sprichst: „Herr, ich überlasse dir meine Sorge um …“
Pilgerschaft des Geistes: Nimm dir während der Fastenzeit bewusst Zeit für eine tägliche „innere Pilgerschaft“. Beginne mit 5-10 Minuten Stille, in der du dich auf den Ruf Gottes öffnest. Stelle dir die Frage: „Wozu ruft mich Gott heute? Welchen Schritt des Vertrauens soll ich gehen?“
Lectio Divina : Lies meditativ die Abrahamsgeschichte (Gen 12-25) in kleinen Abschnitten über mehrere Tage verteilt. Verweile besonders bei jenen Stellen, wo Abrahams Vertrauen auf die Probe gestellt wird. Frage dich: „Wie hätte ich an seiner Stelle gehandelt? Was kann ich von seiner Haltung lernen?“
Askese der Kontrolle: Verzichte bewusst auf die Kontrolle bestimmter Situationen. Übe dich darin, Ereignisse anzunehmen, statt sie beherrschen zu wollen. Johannes vom Kreuz (1542-1591) beschreibt dies als „aktive Nacht der Sinne“ – ein bewusstes Loslassen unseres Bedürfnisses nach Kontrolle.
Gebet um Vertrauen auf Gottes Führung
Heiliger Gott, Herr des Seins,
der du Abraham aus seiner Heimat gerufen
und ihn auf dem Weg des Vertrauens geführt hast,
rufe auch mich aus meinen Sicherheiten heraus.
Gib mir den Mut, das Vertraute zu verlassen,
wenn du mich in unbekanntes Land führst.
Schenke mir die Geduld Abrahams,
auf deine Verheißung zu warten,
auch wenn ich ihre Erfüllung nicht sehe.
Hilf mir, wie Abraham nicht auf die eigene Kraft,
sondern auf deine Treue zu bauen.
Befreie mich von der Illusion der Kontrolle
und lehre mich die Freiheit des Vertrauens.
Mach mich zum Segen für andere,
dass durch mein Leben deine Güte sichtbar wird.
Führe mich durch die Wüste dieser Fastenzeit
in das Land der österlichen Verheißung.
Durch Christus, deinen menschgewordenen Sohn,
und unseren Herrn. Amen.
Die Fastenzeit als Exodus des Vertrauens
Mit dem Beginn der zweiten Fastenwoche verlassen wir symbolisch die ursprüngliche Heimat unserer Gewohnheiten und Sicherheiten. Wie Abraham sind wir aufgerufen, einen Weg des Vertrauens zu gehen – einen Weg, dessen Ende wir nicht sehen können, der aber zur Erfüllung der göttlichen Verheißung führt.
Irenäus von Lyon (ca. 135-202) sagt: „Die Herrlichkeit Gottes ist der lebendige Mensch, und das Leben des Menschen ist die Schau Gottes.“ Die Berufung Abrahams zeigt, dass Gott den Menschen auf einen Weg führen will, an dessen Ende eine tiefere Gottesschau steht – eine Schau, die uns lebendiger macht, als wir es uns vorstellen können.
Die Fastenzeit ist in diesem Sinne kein Weg der Verarmung, sondern der Bereicherung – ein Exodus aus der Knechtschaft unserer selbstgemachten Götter hin zur Freiheit der Kinder Gottes. Wie Abraham dürfen wir vertrauen, dass der Gott, der uns ruft, uns auch führen und segnen wird.
Können wir heute sagen: „Hier bin ich, Herr. Ich bin bereit, dir zu folgen, wohin du mich führst“?
Pfr. Dr. Diradur Sardaryan