Von der Schöpfung zur Auferstehung:
Der Sündenfall und seine Folgen
1. Woche, Dienstag (4. März 2025):
Biblische Lesung für den Tag
Genesis 3; Römer 5:12-21
Der Bruch der ursprünglichen Gemeinschaft
„Und sie hörten Gott, den HERRN, wie er im Garten ging, als der Tag kühl geworden war. Und Adam versteckte sich mit seiner Frau vor dem Angesicht Gottes“ (Gen 3,8). Diese Worte markieren einen der tiefsten Brüche in der biblischen Heilsgeschichte. Die harmonische Ordnung der Schöpfung, in der Gott und Mensch in unmittelbarer Gemeinschaft standen, wird durchbrochen. Ein Riss entsteht, der die gesamte folgende Geschichte prägen wird.
Die Sündenfallerzählung ist weit mehr als ein Mythos aus ferner Vergangenheit oder eine moralische Parabel. Sie ist eine tiefgreifende theologische Reflexion über die Natur des Menschen, seine Freiheit und sein Verhältnis zu Gott. Die armenisch-theologische Tradition versteht die Sünde nicht primär als juristische Übertretung eines göttlichen Gesetzes, sondern als existenziellen Bruch einer lebendigen Beziehung.
Der heilige Athanasius beschreibt im 4. Jahrhundert den Sündenfall als eine „Wendung vom Sein zum Nicht-Sein“ – als eine Abkehr vom Lebensquell hin zur Nichtigkeit. Dieser Gedanke wird von späteren Kirchenvätern weiterentwickelt, welche die Sünde als „Seinsverfehlung“ charakterisieren – als ein Verfehlen der wahren Bestimmung des Menschen.
Die Anatomie der Versuchung
„Ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist“ (Gen 3,5). Diese Worte der Schlange enthalten die fundamentale Versuchung, die bis heute wirksam ist. Sie besteht nicht einfach in der Übertretung eines willkürlichen Verbots, sondern in dem Versuch, ohne Gott autonom zu sein – selbst über Gut und Böse zu entscheiden, anstatt diese Unterscheidung in der Beziehung zu Gott zu finden.
Maximus der Bekenner (580-662) analysiert die Versuchung als dreifache Bewegung:
- Verlockung (prosbole): Die Schlange präsentiert eine Möglichkeit, die attraktiv erscheint.
- Erwägung (syndiasmos): Adam und Eva nehmen den Gedanken auf und beginnen, ihn zu erwägen.
- Zustimmung (synkatathesis): Sie geben dem Gedanken nach und handeln entsprechend.
Dieser Prozess wiederholt sich in jeder Versuchung. Die Fastenzeit lädt uns ein, besonders auf die erste Phase – die Verlockung – zu achten, bevor sie zur Gewohnheit wird.
Bemerkenswert ist auch, dass die Schlange eine fundamentale theologische Wahrheit verzerrt. Die Gottebenbildlichkeit des Menschen (Gen 1,26) wird zur Versuchung der Gottgleichheit. Diese subtile Verzerrung der Wahrheit ist charakteristisch für die Wirkungsweise des Bösen, das selten in offensichtlicher Falschheit, sondern meist in leichter Verdrehung des Wahren auftritt.
Die Folgen des Sündenfalls
Der Sündenfall führt nicht zu einer äußerlichen Strafe, sondern zu einer inneren Zerstörung der Beziehungsfähigkeit des Menschen auf vier Ebenen:
- Entfremdung von Gott: Adam und Eva verstecken sich vor Gott (Gen 3,8). Die unmittelbare Gottesbeziehung ist gestört; anstelle von Vertrauen treten Angst und Scham. Der heilige Gregor von Nyssa beschreibt dies als „Verlust der parrhesia“ – jener freimütigen Offenheit, die das Kennzeichen der ursprünglichen Gottesbeziehung war.
- Entfremdung vom eigenen Selbst: Die Nacktheit, die zuvor natürlich war, wird nun zum Problem (Gen 3,7). Dies symbolisiert einen inneren Bruch im Menschen selbst – er ist nicht mehr in Harmonie mit seinem eigenen Wesen. Augustinus spricht von der concupiscentia – einer Unordnung der Begierden, bei der der Geist nicht mehr Herr über den Körper ist.
- Entfremdung vom Mitmenschen: Adam schiebt die Schuld auf Eva, Eva auf die Schlange (Gen 3,12-13). Die ursprüngliche Einheit von Mann und Frau („Fleisch von meinem Fleisch“, Gen 2,23) weicht Schuldzuweisung und Herrschaft (Gen 3,16). Dies ist der Ursprung aller sozialen Konflikte.
- Entfremdung von der Natur: Die Erde bringt „Dornen und Disteln“ hervor, die Arbeit wird mühsam (Gen 3,17-19). Die harmonische Beziehung zur natürlichen Umwelt ist gestört – ein Aspekt, der in unserer ökologischen Krise besonders aktuell erscheint.
Die „glückliche Schuld“
Eine bemerkenswerte Spannung in der christlichen Tradition ist die paradoxe Bewertung des Sündenfalls als „glückliche Schuld“ (felix culpa), wie es im Exsultet der Osternacht in der katholischen Kirche heißt: „O wahrhaft heilbringende Sünde des Adam, die durch Christi Tod vernichtet wurde! O glückliche Schuld, welch großen Erlöser hast du gefunden!“
Diese Sichtweise, die besonders von Irenäus von Lyon (2. Jh.) entwickelt wurde, sieht den Sündenfall nicht nur als Katastrophe, sondern auch als Möglichkeit für eine tiefere Vereinigung mit Gott durch Christus. Die Menschwerdung Gottes überwindet die Distanz zwischen Gott und Mensch in einer Weise, die ohne den Fall vielleicht nicht möglich gewesen wäre.
Der russische Theologe Nikolai Berdjajew (1874-1948) entwickelt diesen Gedanken weiter: „Der Sündenfall ist nicht nur ein Fall nach unten, sondern auch ein Fall nach vorne“ – ein schmerzlicher, aber notwendiger Schritt in der spirituellen Reifung des Menschen.
Paulus und die Adam-Christus-Typologie
Der Apostel Paulus entfaltet im Römerbrief eine tiefgründige Typologie: „Wie durch die Übertretung des einen [Adam] die vielen dem Tod anheimfielen, so ist erst recht die Gnade Gottes und die Gabe durch die Gnade des einen Menschen Jesus Christus den vielen reichlich zuteilgeworden“ (Röm 5,15).
Diese Gegenüberstellung von Adam und Christus ist ein Schlüssel zum Verständnis der christlichen Heilsgeschichte:
- Adam: Ungehorsam → Tod → Trennung von Gott
- Christus: Gehorsam → Leben → Vereinigung mit Gott
In der orthodoxen Ikonographie wird diese Typologie oft dadurch dargestellt, dass der gekreuzigte Christus über dem Schädel Adams steht – ein Symbol dafür, dass der Tod des zweiten Adam den ersten Adam erlöst.
Die Fastenzeit lädt uns ein, diesen Übergang von Adam zu Christus existenziell nachzuvollziehen – vom alten zum neuen Menschen, von der Entfremdung zur Versöhnung.
Sünde als Beziehungsstörung
Die westliche theologische Tradition hat oft die juridische Dimension der Sünde betont – Sünde als Übertretung göttlicher Gesetze, die Strafe nach sich zieht. Die östliche Tradition hingegen versteht Sünde primär als Beziehungsstörung. Der griechische Begriff für Sünde, hamartia, bedeutet wörtlich „das Ziel verfehlen“ – nicht an dem Ort ankommen, für den man bestimmt ist.
Der russische Theologe Alexander Schmemann (1921-1983) beschreibt die Sünde als „Exil aus dem Paradies“ – als Verlust der eucharistischen Beziehung zur Welt, in der alles als Geschenk empfangen und in Dankbarkeit zurückgegeben wird. In der Armenischen Kirche kommt es in der Großen Fastenzeit dadurch zum Ausdruck, dass der Vorhang des Altars geschlossen bleibt und die Gläubigen während der Großen Fastenzeit nicht am Kommunion teilnehmen dürfen.
Diese Perspektive hilft, die Fastenzeit nicht als Zeit der Selbstbestrafung, sondern als Heimkehr zu verstehen – als Wiederherstellung jener Beziehungen, die durch die Sünde zerbrochen sind.
Die ontologische Realität des Bösen
Die Sündenfallerzählung wirft die fundamentale Frage nach dem Ursprung und der Natur des Bösen auf. Die philosophische Tradition bietet verschiedene Antworten:
Augustinus versteht das Böse als privatio boni – als Abwesenheit oder Beraubung des Guten, ohne eigene Substanz. Das Böse ist wie eine Krankheit, die den gesunden Organismus befällt, aber keine eigenständige Realität besitzt.
Søren Kierkegaard (1813-1855) analysiert den Sündenfall existentiell als „Sprung in die Selbstherrlichkeit“ – als Moment, in dem der Mensch die Angst der Freiheit erfährt und sich gegen Gott entscheidet. Diese Entscheidung ist nicht rational erklärbar, sondern ein existentieller Akt.
Paul Ricœur (1913-2005) spricht vom „Geheimnis der Ungerechtigkeit“ (mysterium iniquitatis) – vom Bösen als Paradox, das sich der vollständigen Rationalisierung entzieht. Seine Hermeneutik der Sündenfallerzählung zeigt, wie der Mythos eine Wirklichkeit erfasst, die das begriffliche Denken übersteigt.
In der Fastenzeit reflektieren wir nicht nur über persönliche moralische Verfehlungen, sondern über die ontologische Realität des Bösen, die größer ist als unsere individuelle Schuld, aber durch Christus bereits prinzipiell überwunden ist.
Praktische Übungen für die Fastenzeit
Examen des Gewissens: Entwickle eine tägliche Praxis der Selbsterforschung, nicht als moralische Selbstanklage, sondern als Bewusstwerdung jener Bereiche, in denen du dich von Gott, von dir selbst, von anderen oder von der Schöpfung entfremdet hast. Die Tradition des hesychasmus (der Ruhe) lehrt, dass wahre Selbsterkenntnis nur in der Stille möglich ist.
Mysterium der Beichte: Die Fastenzeit ist traditionell eine Zeit der Beichte. Dieses Mysterium ist nicht nur ein Bekenntnis individueller Sünden, sondern ein Akt der Wiedereingliederung in die Gemeinschaft – eine Heilung der vierfachen Entfremdung.
Vergebungspraxis: Am Beginn der Großen Fastenzeit steht in der orthodoxen Tradition der „Sonntag der Vergebung“, an dem alle Gläubigen einander um Vergebung bitten. Praktiziere auch während der Fastenzeit bewusst die Vergebung – sowohl das Vergeben als auch das Bitten um Vergebung.
Khokum (Lectio Divina): Meditiere über Psalm 51 (50), den großen Bußpsalm Davids: „Erschaffe mir, Gott, ein reines Herz und einen festen Geist erneuere in meinem Innern“ (Ps 51,12). Dieser Psalm ist ein Schlüsseltext für das Verständnis von Sünde als Beziehungsstörung und von Umkehr als innerer Erneuerung.
Gebet zur Umkehr
Herr Jesus Christus, Sohn Gottes,
erbarme dich meiner, des Sünders.
Ich habe mich abgewandt von deinem Licht
und bin in die Dunkelheit meiner eigenen Wege gegangen.
Wie Adam habe ich mich versteckt vor deinem Angesicht,
wie Eva habe ich nach falscher Weisheit gegriffen.
Heile die vierfache Trennung in meinem Leben:
die Trennung von dir, dem Quell allen Lebens;
die Trennung von meinem wahren Selbst, das nach deinem Bild geschaffen ist;
die Trennung von meinen Mitmenschen, die dein Antlitz tragen;
die Trennung von deiner Schöpfung, die deine Herrlichkeit widerspiegelt.
Führe mich zurück in die Gemeinschaft deiner Liebe,
damit ich wieder lerne, alles als Geschenk zu empfangen
und in Dankbarkeit zurückzugeben.
Denn du bist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist,
und in dir finden wir den Weg zurück ins Paradies.
Herr, Erbarme dich. Amen.
Von Adam zu Christus
Die zweite Etappe unserer Fastenreise führt uns vom Paradiesgarten zum Kreuz auf Golgatha, vom ersten zum zweiten Adam. Wir betrachten nicht nur den Fall, sondern auch die Erhebung; nicht nur die Wunde, sondern auch die Heilung.
Die große österliche Reise der Fastenzeit ist ein Weg der metanoia – jener fundamentalen „Umkehr des Geistes“, die mehr ist als moralische Besserung. Sie ist eine Neuausrichtung unseres ganzen Seins auf Gott, eine Wiederentdeckung unserer wahren Natur als Gottes Ebenbild.
Die Kirchenväter beschreiben diese Transformation als ein Wiedererwachen: Wer den Sündenfall wirklich erkannt hat, beginnt zu weinen – nicht aus Verzweiflung, sondern aus Sehnsucht nach der verlorenen Heimat. Und diese Tränen werden zum Tau, der das verdorrte Herz wieder zum Blühen bringt.