Mariä Verkündigung
in der armenischen Tradition
Von Pfr. Dr. Diradur Sardaryan
Im Dämmer des Morgenlichts schlängelt sich ein schmaler Pfad durch die kargen Hügel Armeniens hinauf zum Kloster Gndevaնկ. Die Klostersteine leuchten golden in der Sonne. Drinnen, im Halbdunkel, flackern Kerzen vor einer jahrhundertealten Miniatur der Verkündigung: Ein Engel neigt sich zu Maria, deren gesenkter Blick eine Welt innerer Bewegung verbirgt. Dieser Moment, festgehalten in den Miniaturen und Wandmalereien der Armenischen Kirche, verkörpert ein Mysterium, das die armenische Christenheit seit dem 4. Jahrhundert in einzigartiger Weise liturgisch, künstlerisch und theologisch durchdringt. Am 07. April feiert die Armenische Apostolische Kirche das Fest der Verkündigung des Herrn oder Mariä Verkündigung, auf Armenisch: Աւետումն Աստուածածնի (Avetumn Astuatsatsni).
Das Fest der Begegnung
„Խորհուրդն անճառ՝ ծածկեալն յազգաց եւ յաւիտեանց, յայտնեցաւ իջմամբ հրեշտակապետին այսօր առ Կոյսն Մարիամ…“ – „Das unaussprechliche Geheimnis, verborgen vor den Völkern und Zeitaltern, wurde heute offenbart durch das Herabsteigen des Erzengels zur Jungfrau Maria…“
Mit diesen Worten beginnt ein Scharakan – einer jener liturgischen Gesänge, die im armenischen Gottesdienst zur Verkündigung erklingen. Sie erzählen vom Augenblick, als der Erzengel Gabriel einer jungen Frau in Nazareth erschien und ihr ankündigte, dass sie den Erlöser gebären würde. Ein Moment, in dem die Grenzen zwischen Göttlichem und Menschlichem, zwischen Ewigkeit und Geschichte, durchlässig wurden.
Anders als im Westen wird die Verkündigung – Աւետում (Awetum) – in der armenischen Tradition nicht nur als chronologischer Ausgangspunkt der Heilsgeschichte verstanden, sondern als fortdauerndes Ereignis: Die Begegnung des Unendlichen mit dem Endlichen, die in jedem Gläubigen nachhallen soll.
Die armenische Stimme im christlichen Chor
Die Armenische Apostolische Kirche, älteste Staatskirche der Welt (301 n.Chr.), entwickelte ihre eigenständige liturgische Tradition. Nach dem Konzil von Chalcedon (451) ging sie theologisch eigene Wege, blieb ganz nah an der apostolischen Tradition. Diese Abgeschiedenheit – verstärkt durch geographische Faktoren und wiederholte Invasion – beförderte die Entfaltung einer unverwechselbaren christlichen Kultur.
Die Armenier haben das Christentum nicht einfach übernommen, sondern ihm eine eigene Stimme verliehen. In ihrer Liturgie, ihrer Hymnographie und ihrer Kunst haben sie theologische Konzepte auf eine Weise artikuliert, die sich von der byzantinischen oder lateinischen Tradition unterscheidet.
Diese Eigenständigkeit zeigt sich besonders in den Scharakans zur Verkündigung. Während westliche Hymnen oft die Reinheit Mariens und ihre Rolle als neue Eva betonen, rücken armenische Gesänge andere Aspekte in den Vordergrund: die kosmische Bedeutung der Inkarnation und die Spannung zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen.
Eine Theologie in Versen und Farben
Die Theologie der Verkündigung findet ihren Ausdruck nicht nur in theologischen Abhandlungen, sondern vor allem in den Scharakans – jenen liturgischen Gesängen, die seit dem 5. Jahrhundert das Herzstück armenischer Gottesdienste bilden.
Tiefgründige poetische Bilder durchziehen diese Hymnen:
„Անժամանակն առ ի Հօրէ եւ անմարմին ծոցածին Ծնունդ այսօր աւետեօքն Գաբրիելի մարմին զգենու ի սրբոյ Կուսէն…„
„Der Zeitlose vom Vater und der körperlose Schoßgeborene kleidet sich heute durch die Verkündigung Gabriels in Fleisch von der heiligen Jungfrau…“
Diese Verse verdichten ein theologisches Paradoxon: Das Ewige betritt die Zeit, das Unendliche umgrenzt sich, das Wort wird Fleisch. Der armenischen Kirchenväter führten diesen Gedanken weiter: „Der Unumfassbare wird umfasst, der Unfassbare wird berührt, der Grenzenlose begrenzt.“
Bemerkenswert ist die kosmische Dimension in den armenischen Texten. Maria wird angesprochen als „erhabenerer Himmel“, „irdischer Cherub“, „Thron des Unfassbaren“. Anders als in westlichen Traditionen, wo oft ihre Demut und Reinheit im Vordergrund stehen, betonen armenische Hymnen ihre Rolle als Mittlerin zwischen Himmel und Erde, als „Brücke zum Ewigen“.
Bildwelten: Die Verkündigung in armenischen Miniaturen
Die reiche Hymnographie findet ihre visuelle Entsprechung in den Miniaturen armenischer Handschriften. Besonders nach dem 10. Jahrhundert, als sich in Skriptorien wie Gladzor, Tatev und später im Königreich Kilikien eine einzigartige Buchmalerei entwickelte.
„Die armenischen Miniaturen sind keine bloßen Illustrationen biblischer Erzählungen, sondern theologische Statements in Farbe und Form“, erläutert die Kunsthistorikerin Helen C. Evans, ehemalige Kuratorin am Metropolitan Museum. „In jeder Verkündigungsszene steckt eine ganze Kosmologie.“
In der Werkstatt des Toros Roslin (ca. 1210-1270), dem bedeutendsten armenischen Miniaturisten, entstanden Verkündigungsszenen von atemberaubender Schönheit. In seinem berühmten Zeytun-Evangeliar (1256) stehen Maria und Gabriel vor einem architektonischen Hintergrund, der den himmlischen Tempel andeutet. Die Farbsymbolik ist durchdacht: Das tiefe Ultramarin, gewonnen aus dem kostbaren Lapislazuli, symbolisiert die himmlische Sphäre, während Marias purpurnes Gewand auf ihre königliche Würde verweist.
Anders als in byzantinischen Darstellungen hält Maria in armenischen Miniaturen oft eine Spindel in der Hand – eine Anspielung auf die apokryphe Erzählung, wonach sie beim Weben des Tempelvorhangs war, als der Engel erschien. Ein tiefes Symbol: Sie webt den Schleier, der das Heiligste verhüllt, während in ihrem Leib jener Körper Gestalt annimmt, der später zum „Vorhang“ zwischen Gott und Mensch werden sollte, wie es der Brief an die Hebräer ausdrückt.
Die liturgische Verkörperung
In den armenischen Gottesdiensten wird die Verkündigung nicht nur erinnert, sondern vergegenwärtigt. Denn wenn wir die Scharakans singen oder die Fürbitten hören, werden wir zu Zeugen der Verkündigung. Wir stehen mit Maria im Raum, wenn der Engel eintritt.
In der Fürbitte spricht der Diakon:
„Մայր սուրբ բարեխօսեա՛: Աղաչեա՛ վասն մեր զառ ի քէն զմարմնացեալն Աստուած, որ խոնարհեցաւ ի հայրական ծոցոյ…„
„Heilige Mutter, sei unsere Fürsprecherin! Bitte für uns den von dir Fleisch gewordenen Gott, der sich aus dem väterlichen Schoß herabgeneigt hat…“
Und die Gemeinde antwortet mit dem flehenden Ruf: „Heilige Mutter, bitte für uns!“. Dieses Flehen durchzieht den gesamten Gottesdienst wie ein roter Faden. Die Armenische Kirche betont die Rolle Marias als Fürsprecherin, als eine, die wie alle Menschen der göttlichen Gnade bedarf, aber durch ihre Einwilligung („Mir geschehe nach deinem Wort“) zum Werkzeug der Erlösung und zu Gottesgebärerin (Աստուածածին (Astuatsatsin)) wurde.
Die Verkündigung im armenischen Kontext
Die armenische Deutung der Verkündigung ist untrennbar mit der Geschichte einer Nation verbunden, die oft am Rande der Vernichtung stand. Die Vorstellung, dass Gott sich in die Zerbrechlichkeit des Menschseins begibt, gewann in einem Land, das wiederholt von Invasionen, Verfolgung und Vertreibung heimgesucht wurde, besondere Resonanz.
Die Verkündigung lehrt uns, dass Gott nicht in triumphaler Macht kommt, sondern in Verletzlichkeit. Für ein Volk, das so viel Leid erfahren hat, ist diese Botschaft kein abstraktes Theologumenon, sondern existenzielle Wahrheit.
Diese Verschränkung von Theologie und kollektivem Gedächtnis zeigt sich in zahlreichen armenischen Kirchen, die der Gottesgebärerin geweiht sind. Auch wenn unzählige Kirchen, vor allem nach dem Völkermord an den Armeniern vom 1915 und in der sowjetischen Zeit, aber auch in der Gegenwart in Nachitschewan und Arzakh (Berg Karabach) zerstört wurden, stehen weitere Kirchen, teils auch als Ruinen, sowohl in Armenien als auch in der Diaspora als Zeugen des unerschütterlichen Glaubens der Armenier. Eine der Bekanntesten dieser Ruinen ist die Kathedrale von Ani.
Das Fest der Verkündigung im Alltag armenischer Christen
Während die theologischen Abhandlungen und künstlerischen Ausdrucksformen der Verkündigung beeindruckend sind, findet das Fest seinen tiefsten Widerhall im Leben gewöhnlicher Gläubiger. Allerdings ist über die volkstümlichen Feierlichkeiten und Glaubensvorstellungen zum Fest der Verkündigung (Ավետման տոն) ist wenig bekannt. Wahrscheinlich hatte dieses Fest im Gegensatz zu anderen Kulturen, bei den Armeniern keinen ausgeprägten volkstümlichen Gegenpart. Dennoch gibt es in einigen Regionen volkstümliche Bräuche und Glaubensvorstellungen, die mit der Verkündigung verbunden sind.
In bestimmten Gegenden, wie bei den persisch-armenischen Frauen aus Wajoz Dsor, wurde am Vorabend der Verkündigung ein Ritual durchgeführt: Sie holten schweigend Wasser und Sand aus einem Fluss, sammelten Blumen und bewahrten diese Mischung in einem verschlossenen Krug auf. Dieses Wasser wurde später verwendet, um die Milchproduktion (z. B. bei Käse oder Butter) zu fördern. Der Krug als Symbol taucht häufig in Miniaturen zur Verkündigung auf und steht sinnbildlich für Schwangerschaft, die wiederum mit Milchfülle assoziiert wird.
In anderen Regionen, wie in Moks Awan, pilgerten unfruchtbare Frauen am 7. April nachts auf den Berg „Pokr Pest“, um Fruchtbarkeit zu erbitten – ein Brauch, der auf die Schwangerschaft Marias anspielt. In Artschak brachte ein Familienmitglied vor Sonnenaufgang den Segen „Awetis“ aufs Feld, um eine reiche Ernte zu sichern, was ebenfalls Fruchtbarkeit symbolisiert. In Waspurakan wurden an diesem Tag Steine auf Bäume gelegt, damit sie Früchte tragen, wobei Baum und Stein mit Jesus und Maria verknüpft sind.
Laut Patriarch Jeghishe Duryan versuchten Mädchen am Tag der Verkündigung, mit unbedecktem Kopf im Regen zu stehen, da dies nach dem Glauben dazu führte, dass ihre Haare länger wuchsen. Ebenso hieß es, dass an diesem Tag Austern Perlen bildeten. Das Haar, so die Vorstellung, steht in Verbindung mit dem Körper; seine Länge symbolisiert ein langes Leben. Die Perle wiederum wird als „Auge der Jungfrau Maria“ betrachtet, weshalb an diesem Tag – dem Tag von Marias Schwangerschaft – auch die Austern „trächtig“ werden. Ähnliche Zeremonien wurden von den Bewohnern von Zeytun praktiziert. Wenn es am Tag der Verkündigung regnete, stellten sich die Kinder („Jungs“) darunter, da dies als Zeichen des Überflusses galt.
In manchen Gegenden, wie Marasch, wurden weiße Blumen gesammelt und als Heiltee verwendet. In Tarent hingegen war es verboten, an diesem Tag Milch zu verarbeiten oder Tiere zu paaren, da dies als Respekt vor der unbefleckten Empfängnis galt.
Insgesamt wird die Verkündigung dort, wo Bräuche existierten, als Fest der Fruchtbarkeit und Fülle wahrgenommen. Die Seltenheit solcher volkstümlichen Traditionen deutet darauf hin, dass das Fest keinen starken vorchristlichen Ursprung hatte, der mit der christlichen Feier verschmolzen wäre, im Gegensatz zu anderen Festen wie dem Weinfest oder Wardawar. Die Handlung der Verkündigung selbst mag alte mythologische Wurzeln haben, doch volkstümliche Rituale dazu sind kaum überliefert.
Die Botschaft für heute
Was kann die armenische Deutung der Verkündigung dem modernen Menschen sagen? In einer Zeit wachsender Polarisierung bietet sie eine Perspektive, die Gegensätze nicht auflöst, sondern in Spannung hält: Göttliches und Menschliches, Ewigkeit und Zeit, Macht und Verletzlichkeit.
Die armenischen Scharakans sprechen von einer Begegnung, bei der das Unendliche das Endliche nicht überwältigt, sondern einlädt – eine Pädagogik göttlicher Zurückhaltung, die menschliche Freiheit ernst nimmt. Marias „Ja“ war keine Unterwerfung, sondern ein schöpferischer Akt der Mitwirkung, gleichtzeitig aber eine Zusage in voller Demut.
Die armenische Tradition betont zudem die kosmische Dimension persönlicher Entscheidungen. Das „Fiat“ Marias – „Mir geschehe nach deinem Wort“ – wird nicht als privater Glaubensakt verstanden, sondern als Ereignis mit universaler Tragweite. Eine einzelne menschliche Entscheidung kann den Lauf der Geschichte verändern.
Kehren wir zurück nach Gndevank. Im dämmrigen Licht der Klosterkirche kniet eine alte Frau vor der Verkündigungsikone. Ihre Lippen formen ein stummes Gebet. Sie ist Teil einer Kette von Gläubigen, die über Jahrhunderte hinweg vor diesem Bild gestanden haben – Zeugen eines Mysteriums, das sich immer wieder ereignet: der Begegnung zwischen Himmel und Erde.
Die armenische Tradition der Verkündigung, mit ihren Hymnen, Bildern und Bräuchen, erinnert uns daran, dass diese Begegnung kein einmaliges historisches Ereignis war, sondern ein fortdauerndes Geschehen ist. Wo immer Menschen, wie Maria, offen sind für das Unerwartete, für das Eindringen des Göttlichen in den Alltag, ereignet sich Verkündigung aufs Neue.
In den Worten jenes alten Scharakans:
„Ուրա՛խ լեր, Մարիա՛մ, Կո՛յս անապական, զի ի հայրական ծոցոյ անմեկնելի Որդին ի քո յանձն առնու բնակիլ յորովայնի:„
„Freue dich, Maria, unbefleckte Jungfrau, denn der vom väterlichen Schoß untrennbare Sohn nimmt es auf sich, in deinem Schoß zu wohnen!“
Diese Freude – die Freude über Gottes Ankunft im Menschlichen – bleibt das Herzstück armenischer Spiritualität, ein Lichtblick für alle, die zwischen Himmel und Erde ihren Weg suchen.
