Avag Schabar – Die armenische Karwoche
Die Karwoche oder auch stille Woche ist die letzte Woche der Fasten- und Passionszeit. Der deutsche Name stammt vom althochdeutschen Wort „kara“ oder „chara“ ab, was Kummer, Klage oder Trauer bedeutet. Auf Armenisch wird sie Աւագ Շաբաթ (Avag Schabat. Große Woche) genannt. Vier große Mysterien sehen in dieser Woche die Lehrer der Armenischen Kirche, die wir unten ausführlicher erörtern werden.
Alle Tage des Avag Schabat haben ihre eigene Bedeutung, ihren eigenen Charakter, sie weisen auf die Ereignisse dieser Woche hin, nicht nur mit den entsprechenden Lesungen, sondern auch durch besondere Gottesdienste. Wie die Sonntage der Großen Fastenzeit bilden auch die einzelnen Tage des Avag Schabat ein Ganzes.
Die Tage des Avag Schabats heißen:
Avag Erkushabti (Ավագ Երկուշաբթի) / Karmontag – An diesem Tag wird an die Erschaffung der Welt gedacht und an das Verwelken des unfruchtbaren Feigenbaums (Mt. 21, 18-22);
Avag Ereqschabti (Ավագ Երեքշաբթի) / Kardienstag – Gedenken an die zehn Jungfrauen (Mt. 25, 1-12);
Avag Tschoreqschabti (Ավագ Չորեքշաբթի) / Karmittwoch – Salbung (Mt. 26, 6-13) und Verrat des Herrn (Mt 26, 14-16);
Avag Hingschabti (Ավագ Հինգշաբթի) / Gründonnerstag – Letztes Abendmahl: das Mysterium der Eucharistie (Mt 26, 17-29), das Ritus der Fußwaschung (Joh 13, 1-20), der Abendgottesdienst zur Passion Christi, welches Khawarum (Խավարում) / Verfinsterung genannt wird. Da ab 17 Uhr nach dem Kirchenkalender der neue Tag beginnt, gehört dieser Gottesdienst bereits zu den Ereignissen des Karfreitags.
Avag Urbat (Ավագ Ուրբաթ) / Karfreitag – Gedenken an die Passion und Kreuzigung unseres Herrn Jesus Christus (Mt 26,31 – 27,56), sowie das Begräbnis Jesu (Mt 27, 57 – 66)
Avag Schabat (Ավագ Շաբաթ) / Karsamstag – Tschragaluyts (ճրագալույց) / Lichtmess zu Oster.
Die Bedeutung des „Avag Schabat“
In der armenischen Tradition trägt diese Woche den Namen „Աւագ Շաբաթ“ (Avag Schabat), was wörtlich „Große Woche“ bedeutet. Diese Bezeichnung unterstreicht die außerordentliche theologische Tiefe und spirituelle Bedeutung dieser sieben Tage. Die armenische Kirchentradition identifiziert in dieser Woche vier miteinander verwobene Mysterien:
- Das Mysterium der Schöpfungswoche – eine Rückbesinnung auf den Anfang aller Existenz, wie in Genesis 1,1-3,24 beschrieben
- Das Mysterium der sieben Heilsperioden – nach patristischer Lehre die sieben Epochen von der Schöpfung bis zur Parusie Christi
- Das Mysterium des Leidens Christi – die heilsgeschichtliche Selbsthingabe Gottes, wie in den Evangelien überliefert
- Das Mysterium der Vollendung – die eschatologische Dimension, die auf das Ende aller Zeiten verweist
Diese vierfache Betrachtungsweise verdeutlicht, dass die Karwoche nicht nur ein historisches Gedenken darstellt, sondern eine sakramentale Vergegenwärtigung der gesamten Heilsgeschichte – von der Schöpfung bis zur endgültigen Erlösung. In ihr kommt die kosmische, historische und eschatologische Dimension des christlichen Glaubens in einzigartiger Weise zum Ausdruck.
Die Bedeutung des „Avag Schabat“
Jeder Tag des Avag Schabat besitzt seine eigene theologische Signatur und liturgische Ausprägung, die sich in den spezifischen Lesungen der Armenischen Kirche widerspiegelt. Die sorgfältig ausgewählten Perikopen und besonderen Gottesdienste bilden gemeinsam einen zusammenhängenden heilsgeschichtlichen Bogen.
Palmsonntag (Ծաղկազարդ / Zaghkazard)
Der Palmsonntag eröffnet die Karwoche mit dem triumphalen Einzug Jesu in Jerusalem. Die armenische Leseordnung sieht folgende Texte vor:
- Hoheslied 1,1-2,3: „Deine Liebe ist köstlicher als Wein“ – ein Bild für die Liebe zwischen Christus und seiner Kirche
- Sacharja 9,9-15: „Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel“ – die prophetische Ankündigung des messianischen Einzugs
- Philipper 4,4-7: „Freut euch in dem Herrn allewege“ – ein Aufruf zur Freude trotz des bevorstehenden Leidens
- Matthäus 20,29-21,17: „Hosanna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn!“ – der Bericht vom Einzug in Jerusalem
Diese Lesungen verbinden alttestamentliche Prophetie mit ihrer neutestamentlichen Erfüllung und setzen den liturgischen Rahmen für die kommende Woche.
Avag Erkushabti (Ավագ Երկուշաբթի) / Karmontag
Die Lesungen des Karmontags lenken unseren Blick auf zwei fundamentale theologische Themen:
- Matthäus 21,18-22,14: Der Bericht über den verdorrten Feigenbaum („Es verdorrte der Feigenbaum sogleich“), die Vollmachtsfrage und die Gleichnisse von den zwei Söhnen und den bösen Weingärtnern
- Genesis 1,1-3,24: Die Schöpfungsgeschichte und der Sündenfall – „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“ bis „und er vertrieb den Menschen und ließ östlich vom Garten Eden die Cherubim lagern“
- Sprüche 1,1-9: Die Mahnung zur Weisheit – „Den Weisen zu hören, mehrt das Können“
- Jesaja 40,1-8: Der Trost für das Volk Gottes – „Tröstet, tröstet mein Volk! spricht euer Gott“
- Matthäus 20,17-28: Die dritte Leidensankündigung – „Siehe, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und der Menschensohn wird überantwortet werden“
Die Verbindung dieser Texte ist theologisch bedeutsam: Sie spannt den Bogen vom Schöpfungshandeln Gottes über den Sündenfall bis zum Beginn des Erlösungswerks in Christus. Der verdorrte Feigenbaum wird zum Symbol einer Schöpfung, die ihre gottgegebene Bestimmung verfehlt hat und der Erlösung bedarf.
Avag Ereqschabti (Ավագ Երեքշաբթի) / Kardienstag
Im Zentrum dieses Tages steht das Gedächtnis der zehn Jungfrauen, das durch folgende Lesungen entfaltet wird:
- Markus 12,13-44: Die Auseinandersetzungen Jesu mit seinen Gegnern und das Scherflein der Witwe
- Genesis 6,9-9,17: Die Geschichte der Sintflut und des Bundes mit Noah – „Noah aber fand Gnade vor dem HERRN“
- Sprüche 9,1-10,6: Die Einladung der Weisheit – „Die Weisheit hat ihr Haus gebaut“
- Jesaja 40,9-17: Die Größe und Macht Gottes – „Siehe, da ist euer Gott!“
- Matthäus 24,1-26,2: Die Endzeitrede Jesu und die Gleichnisse von den zehn Jungfrauen, den anvertrauten Talenten und vom Weltgericht – „Darum wachet! Denn ihr wisst weder Tag noch Stunde“
Diese Texte verknüpfen die Themen der Wachsamkeit, des göttlichen Gerichts und der eschatologischen Erwartung. Das Gleichnis von den zehn Jungfrauen (Mt 25,1-13) fordert uns zur spirituellen Bereitschaft auf: „Darum wachet! Denn ihr wisst weder Tag noch Stunde, in welcher der Menschensohn kommen wird“ (Mt 25,13).
Avag Tschoreqschabti (Ավագ Չորեքշաբթի) / Karmittwoch
Der Karmittwoch thematisiert den Verrat des Judas im Kontext der göttlichen Heilsgeschichte:
- Markus 14,1-11: Die Salbung in Bethanien und der Verrat des Judas – „Was sie konnte, hat sie getan; sie hat meinen Leib im Voraus gesalbt für mein Begräbnis“
- Genesis 18,1-19,30: Die Erscheinung Gottes bei Abraham und die Geschichte von Sodom und Gomorra – „Sollte dem HERRN etwas unmöglich sein?“
- Sprüche 1,10-19: Warnung vor Verführung – „Mein Sohn, wenn dich die bösen Buben locken, so folge nicht“
- Sacharja 11,11-14: Der Lohn des Hirten – „Und sie wogen mir dreißig Silberstücke dar“
- Matthäus 26,3-16: Der Beschluss des Hohen Rates und der Verrat des Judas – „Was wollt ihr mir geben? Ich will ihn euch verraten“
In dieser spannungsreichen Gegenüberstellung von Hingabe (die Frau, die Jesus salbt) und Verrat (Judas), von Liebe und Berechnung, entfaltet sich ein tiefes theologisches Drama. Die dreißig Silberstücke, für die Judas Jesus verrät, werden bereits im Buch Sacharja prophetisch vorweggenommen.
Avag Hingschabti (Ավագ Հինգշաբթի) / Gründonnerstag
Der Gründonnerstag ist dem Gedächtnis des letzten Abendmahls gewidmet und vereint eine besonders reiche Auswahl an Lesungen:
- Johannes 12,27-43: Die Stunde der Verherrlichung – „Jetzt ist meine Seele betrübt“
- Jesaja 60,20-22: Die Verheißung der ewigen Herrlichkeit – „Deine Sonne wird nicht mehr untergehen“
- Ezechiel 36,24-31: Die Verheißung des neuen Herzens – „Ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben“
- Hebräer 10,19-31: Der neue und lebendige Weg – „Da wir nun, Brüder und Schwestern, durch das Blut Jesu die Freiheit haben zum Eingang in das Heiligtum“
- Lukas 7,36-50: Die Salbung Jesu durch die Sünderin – „Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel geliebt“
- Genesis 22,1-18: Die Opferung Isaaks – „Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer“
- Jesaja 61,1-7: Der Gesalbte des Herrn – „Der Geist Gottes des HERRN ist auf mir, weil der HERR mich gesalbt hat“
- Apostelgeschichte 1,15-26: Die Wahl des Matthias – „Es muss einer von den Männern, die bei uns waren die ganze Zeit über“
- Markus 14,1-26 und Matthäus 26,17-30: Die Einsetzung des Abendmahls – „Das ist mein Leib… Das ist mein Blut des Bundes“
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- Korinther 11,23-32: Die Überlieferung vom Herrenmahl – „So oft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt“
Zusätzlich sieht der Ritus der Fußwaschung (Կարգ Ոտնլուայի) folgende Lesungen vor:
- Exodus 30,17-21: Das eherne Becken – „Aaron und seine Söhne sollen ihre Hände und Füße darin waschen“
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- Könige 7,38-40: Das eherne Meer im Tempel – „Und er machte zehn eherne Kessel“
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- Chronik 4,2-6: Die Waschgefäße im Tempel – „Das Meer aber war für die Priester zum Waschen bestimmt“
- Jesaja 44,2-6: Die Ausgießung des Geistes – „Ich will Wasser gießen auf das Durstige“
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- Korinther 10,1-4: Der geistliche Fels – „Sie tranken aber alle von demselben geistlichen Trank“
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- Johannes 4,7-21: Gott ist die Liebe – „Lasst uns einander lieben, denn die Liebe ist von Gott“
- Johannes 13,1-11: Die Fußwaschung – „Wenn ich dich nicht wasche, so hast du kein Teil an mir“
- Johannes 13,12-15: Die Deutung der Fußwaschung – „Ein Beispiel habe ich euch gegeben“
Diese umfangreiche Leseordnung entfaltet die verschiedenen Dimensionen des Abendmahlsgeschehens: Seine typologische Vorwegnahme im Alten Testament, seine historische Realisierung im Letzten Abendmahl und seine sakramentale Vergegenwärtigung in der Kirche.
Avag Urbat (Ավագ Ուրբաթ) / Karfreitag
Der Karfreitag steht ganz im Zeichen des Leidens und Sterbens Christi:
- Johannes 13,16-18,1, Lukas 22,1-65, Markus 14,27-72, Matthäus 26,31-56, Matthäus 26,57-75, Johannes 18,2-27, Johannes 18,28-19,16: Die umfassenden Berichte der Passion Jesu
Die Ordnung der Grablegung (Կարգ Թաղման) fügt folgende Lesungen hinzu:
- Jeremia 11,18-12,8: Die Anfeindung des Propheten – „Ich aber war wie ein zahmes Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird“
- Jesaja 52,13-53,12: Das Lied vom leidenden Gottesknecht – „Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen“
- Weisheit 2,1-22: Das Schicksal des Gerechten – „Lasst uns dem Gerechten auflauern, denn er ist uns unbequem“
- Sacharja 12,8-14: Die Klage um den Durchbohrten – „Sie werden auf den schauen, den sie durchbohrt haben“
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- Petrus 3,17-20: Der Abstieg Christi ins Totenreich – „In diesem ist er auch hingegangen und hat gepredigt den Geistern im Gefängnis“
- Matthäus 27,57-61: Die Grablegung Jesu – „Und Joseph nahm den Leib und wickelte ihn in ein reines Leinentuch“
Die Lesungen des Karfreitags konfrontieren uns mit dem äußersten Mysterium des Glaubens: dem stellvertretenden Leiden und Sterben Christi. Besonders eindrücklich ist die Verbindung zum Lied vom leidenden Gottesknecht aus Jesaja 53, das die tiefere Bedeutung des Kreuzesgeschehens erschließt: „Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet und um unserer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt“ (Jes 53,5).
Avag Schabat (Ավագ Շաբաթ) / Karsamstag
Der Karsamstag, in der armenischen Tradition als „Tschragaluytz“ (ճրագալոյց / Lichtfeier) begangen, bildet den Übergang zum Osterfest:
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- Korinther 15,1-11: Das Zeugnis von der Auferstehung – „Denn ich habe euch vor allem weitergegeben, was ich auch empfangen habe: Dass Christus gestorben ist für unsre Sünden nach der Schrift“
- Matthäus 28,1-20: Die Auferstehung Jesu – „Er ist nicht hier; er ist auferstanden, wie er gesagt hat“
Heiliges Osterfest (Ս. ՅԱՐՈՒԹԻՒՆ / Surb Harut’yun)
Das Fest der Auferstehung krönt die Karwoche:
- Apostelgeschichte 1,15-26: Die Wahl des Matthias als Zeuge der Auferstehung
- Markus 16,2-8: Die Botschaft des Engels am leeren Grab – „Er ist auferstanden, er ist nicht hier“
Die heilsgeschichtliche Dimension des „Avag Schabat“
Die alttestamentlichen Lesungen der ersten Tage des Avag Schabat erschließen die tieferen heilsgeschichtlichen Dimensionen der Karwoche. Sie führen uns durch entscheidende Stationen der Erlösungsgeschichte. Sie helfen uns zu verstehen, warum die Ereignisse der Passion Jesu – sein Leiden und Sterben – notwendig waren. Lassen Sie uns diese Lesungen gemeinsam betrachten.
Stationen der Heilsgeschichte
- Die Schöpfung: Der Anfang aller Dinge
In Genesis 1-2 lesen wir, wie Gott die Welt erschuf: den Himmel, die Erde, die Menschen. „Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut“ (Gen 1,31). Es war eine Zeit der Harmonie zwischen Gott und Mensch. - Der Sündenfall: Der Bruch mit Gott
Doch diese Harmonie hielt nicht. Genesis 3 erzählt vom Sündenfall: Adam und Eva widersetzen sich Gott und werden aus dem Paradies vertrieben: „So trieb Gott der HERR den Menschen hinaus“ (Gen 3,24). Die Beziehung zu Gott ist gestört. - Die Sintflut: Reinigung und Neubeginn
Später, in Genesis 6-8, wird die Menschheit durch die Sintflut gereinigt. „Da ging die Sintflut vierzig Tage auf Erden“ (Gen 7,17). Noah und seine Familie überleben – ein Zeichen dafür, dass Gott die Welt nicht aufgibt. - Der Bund mit Noah: Ein neues Versprechen
Nach der Flut schließt Gott einen Bund mit Noah. Der Regenbogen wird zum Zeichen dieses Bundes: „Und Gott sprach: Das ist das Zeichen des Bundes“ (Gen 9,12). Es ist ein Neuanfang mit einer Zusage Gottes. - Abrahams Fürbitte: Barmherzigkeit und Gerechtigkeit
In Genesis 18 zeigt Abraham Gastfreundschaft und bittet Gott, Sodom zu verschonen: „Willst du denn den Gerechten mit dem Gottlosen umbringen?“ (Gen 18,23). Hier sehen wir Gottes Geduld und Abrahams Vertrauen. - Lots Rettung: Schutz in der Gefahr
Genesis 19 berichtet von der Zerstörung Sodoms, doch Lot und seine Familie werden gerettet: „Als nun die Morgenröte aufging, drängten die Engel Lot“ (Gen 19,15). Gott bewahrt die Gerechten. - Die Opferung Isaaks: Vertrauen auf Gott
In Genesis 22 wird Abraham geprüft: Er soll seinen Sohn Isaak opfern. Doch er sagt: „Gott wird sich ersehen ein Schaf zum Brandopfer“ (Gen 22,8). Gott greift ein und rettet Isaak – ein Hinweis auf sein Erbarmen.
Diese Lesungen sind mehr als alte Erzählungen. Sie zeigen, wie Gott über Jahrhunderte hinweg die Menschheit auf die Ankunft Jesu vorbereitet hat. Die Schöpfung, der Sündenfall, die Neuanfänge und Prüfungen – all das führt zur Notwendigkeit der Inkarnation (Gottes Menschwerdung) und des Kreuzesopfers Christi. Sie bilden die Grundlage der Heilsgeschichte, deren Höhepunkt wir in der Karwoche erleben. Die neutestamentlichen Lesungen ergänzen dies, indem sie uns in die letzten Tage Jesu vor seiner Kreuzigung führen.
Die transformative Kraft des Kreuzesgeschehens
Warum steht das Kreuz so zentral im christlichen Glauben? Der heilige Johannes Chrysostomus (Սբ․ Հովհաննես Ոսկեբերան) gibt uns eine tiefgründige Antwort: „Das Kreuz hat den Tod vernichtet, die Sünde getilgt, der Hölle ihre Beute entrissen, des Teufels Macht gebrochen.“ Diese Aussage findet ihre biblische Grundlage in Texten wie Kolosser 2,14-15: „Er hat den Schuldbrief getilgt, der mit seinen Forderungen gegen uns war… Er hat die Mächte und Gewalten ihrer Macht entkleidet und sie öffentlich zur Schau gestellt und über sie triumphiert in Christus.“
Die Karwoche bietet uns einen privilegierten Raum für tiefgreifende Selbstreflexion im Licht des Passionsgeschehens. Die aktive Teilnahme an den Gottesdiensten des Avag Schabat erschließt uns die tiefere Bedeutung des Kreuzes und der Passion Christi, wie es der Apostel Paulus zum Ausdruck bringt: „Ich bin mit Christus gekreuzigt. Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,19-20).
Indem wir uns in die Leiden unseres Heilands hineinversetzen, werden wir empfindsamer für das Leid anderer. Wir begreifen aber auch den Wert der Erlösung und die Tatsache, dass diese Erlösung nicht nur für uns, sondern für die gesamte Menschheit ist. Das Mitleid, das wir für die Leiden anderer empfinden, bekommt einen tiefen Sinn. Somit können wir in unserer geistlichen Entwicklung einen wichtigen Schritt nach vorn machen und unsere Herzen und Seelen für ein neues Leben mit und in Christus zu öffnen. Durch die Teilhabe an Seiner Passion können wir uns selbst zum Besseren verändern.
Diese Reflexion entspricht der paulinischen Theologie des Mitleidens: „Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit“ (1 Kor 12,26) und „Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden“ (Röm 12,15). Die Solidarität mit dem leidenden Christus führt zur Solidarität mit allen Leidenden und wird zum Impuls für ein christusförmiges Leben in der Welt.
Der Weg zur österlichen Erneuerung
Die große Fastenzeit, die in der Karwoche ihren Höhepunkt findet, ist ein spiritueller Pilgerweg, der zur Erneuerung des Lebens durch die Auferstehung Christi führt. Der Apostel Paulus drückt diesen Zusammenhang so aus: „Sind wir nun mit Christus gestorben, so glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden“ (Röm 6,8). Schritt für Schritt nähern wir uns dem „heiligen Tag des unsagbaren Lichtes“ und dürfen während des Avag Schabat intensiver ergründen, was der „Heilige Gott, der Starke Gott, der Unsterbliche Gott“ für uns vollbringt.
Mit diesem vertieften Verständnis gelangen wir zum Zadig, dem Heiligen Fest der Auferstehung des Herrn, der uns befreit und uns das ewige Leben schenkt. Die Osterfreude, die wir dann erfahren, ist keine oberflächliche Fröhlichkeit, sondern die tiefe Freude, von der Jesus spricht: „Ich lebe, und ihr sollt auch leben“ (Joh 14,19).
Die Armenische Gemeinde Baden-Württemberg lädt daher alle Gläubigen ein, aktiv an den Gottesdiensten der Karwoche teilzunehmen, sich mit den täglichen Lesungen auseinanderzusetzen und im Gebet zu verweilen. Auf der Website der Gemeinde werden täglich die Lesungen des Avag Schabat veröffentlicht, begleitet von Erläuterungen zum theologischen Gehalt des jeweiligen Tages.
Das Kreuz als Zeichen der Erlösung
In der armenischen Tradition wird das Kreuz nicht nur als Instrument des Leidens Christi verstanden, sondern als Symbol der Erlösung, das Himmel und Erde, Zeit und Ewigkeit verbindet. Der armenische Kirchenvater Gregor von Narek (Գրիգոր Նարեկացի) schreibt in seinem „Buch der Klagen“, dass das Kreuz die Leiter ist, die den Menschen zum Himmel emporhebt; es ist die Brücke über den Abgrund der Sünde; es ist das Zeichen, in dem alle Zeichen ihre Erfüllung finden.
Diese Sicht entspricht der paulinischen Theologie des Kreuzes: „Denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist es Gottes Kraft“ (1 Kor 1,18). Und: „Es hat Gott wohlgefallen, dass in ihm alle Fülle wohnen sollte und er durch ihn alles mit sich versöhnte, es sei auf Erden oder im Himmel, indem er Frieden machte durch sein Blut am Kreuz“ (Kol 1,19-20).
Eine derart tiefe Dimension des Kreuzes offenbart sich besonders und gerade in der Karwoche. Im Miterleben der Passion Christi erfahren wir das Kreuz nicht nur als historisches Ereignis, sondern als gegenwärtige Realität, die unser Leben durchdringt und transformiert. Es wird zum Schlüssel, der uns die tiefsten Geheimnisse des Glaubens erschließt – das Mysterium der göttlichen Liebe, die sich in äußerster Selbsthingabe manifestiert: „Größere Liebe hat niemand als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde“ (Joh 15,13).
So führt uns der Weg durch die Karwoche nicht nur zum Verständnis des Leidens Christi, sondern zur Erkenntnis jener erlösenden Liebe, die stärker ist als der Tod und die in der Auferstehung ihre endgültige Bestätigung findet: „Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?“ (1 Kor 15,54-55). In diesem Sinne ist die Karwoche mehr als eine Zeit der Trauer – sie ist der Durchgang zum Leben, der Weg zur Teilhabe an der göttlichen Natur, die uns in Christus geschenkt ist, gemäß dem Wort des Apostels Petrus: „Durch ihn hat er uns die kostbaren und allergrößten Verheißungen geschenkt, damit ihr durch sie Anteil bekommt an der göttlichen Natur“ (2 Petr 1,4).
Pfr. Dr. Diradur Sardaryan