S. H. Karekin II, Katholikos aller Armenier
Hüter der armenischen Identität und Brückenbauer
Von Pfarrer Dr. Diradur Sardaryan
Göppingen, Deutschland – Die neusanierte Kathedrale von Etchmiadsin hat Jahrhunderte des Gebets, der Verfolgung und der Beharrlichkeit erlebt. Innerhalb dieser Mauern, in denen das Christentum seit dem 4. Jahrhundert praktiziert wird, steht Seine Heiligkeit Karekin II. als 132. Katholikos aller Armenier einer der ältesten christlichen Gemeinschaften der Welt vor und leitet sie durch eine Ära tiefgreifender Veränderungen. Heute, am Tag der Hl. Vardan und seiner Gefährten, ist Sein Namenstag. Anlass, um über das Lebenswerk Seiner Heiligkeit zu sprechen.
Seit seiner Inthronisierung im Jahr 1999 hat Karekin II. einen heiklen Balanceakt vollzogen: Er hat das unverwechselbare christliche Erbe Armeniens nicht nur bewahrt und entwickelt, sonder gleichzeitig auch die Kirche bei der Bewältigung der komplexen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts navigiert. Seine Amtszeit fällt in eine Zeit enormer Veränderungen sowohl für Armenien als auch für das weltweite Christentum.
Ein Leben im Dienst des Glaubens
Karekin II. wurde 1951 als Ktrich Nersisyan im sowjetischen Armenien geboren und wuchs in einer Zeit heran, in der religiöse Äußerungen stark eingeschränkt waren. Sein Engagement für den geistlichen Dienst führte ihn vom Theologischen Seminar in Etchmiadsin zu weiterführenden Studien in Wien, Bonn und Moskau – Erfahrungen, die seine Weltanschauung prägten und ihn auf eine Führungsrolle vorbereiteten, die über nationale Grenzen hinausgeht.
Unter seiner Leitung hat die Armenische Apostolische Kirche eine bemerkenswerte Wiederbelebung erfahren. Mehr als 100 Kirchen wurden gebaut oder restauriert, darunter bedeutende historische Stätten wie das Tatev-Kloster. Der theologische Lehrplan des Seminars in Etchmiadsin wurde modernisiert, und das Fach „Geschichte der Armenischen Kirche“ wurde in den staatlichen Schulen wieder eingeführt, um einer nach dem sowjetischen Atheismus aufgewachsenen Generation eine geistige Grundlage zu bieten.
Dieser Wiederaufbau ist nicht nur architektonisch, sondern auch symbolisch, Jede restaurierte Kirche steht für die Widerstandsfähigkeit der armenischen christlichen Identität nach Jahrhunderten der Herausforderung.
Ökumenische Brücken und globale Präsenz
Karekin II. hat sich zu einer bedeutenden ökumenischen Persönlichkeit entwickelt. Seine Treffen mit den Päpsten Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus haben die Beziehungen zwischen der armenischen und der römisch-katholischen Kirche gestärkt. Besonders hervorzuheben ist die Heiligsprechung der Opfer des Völkermords an den Armeniern im Jahr 2015, an der auch Papst Franziskus teilnahm. Bei dieser Gelegenheit bezeichnete der Papst die Ereignisse von 1915 als „den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts“ – ein symbolischer Moment, der die historische Anerkennung der Tragödie und die Solidarität der Christen weltweit unterstrich.
Karekin II. setzt sich zudem für den interreligiösen Dialog ein und pflegt Beziehungen zu anderen Kirchen und Glaubensgemeinschaften. Durch seine Besuche in der orthodoxen Welt, im Nahen Osten und in der armenischen Diaspora hat er das Bewusstsein für die Bedeutung der Armenischen Kirche als Brücke zwischen Ost und West gestärkt.
Eine Kirche der Nächstenliebe
Am bemerkenswertesten ist vielleicht die Ausweitung der humanitären Arbeit der Kirche unter der Führung von Karekin II., auch wenn es öffentlich nicht sehr bekannt ist:
- Von der Kirche gesponserte Wohltätigkeitsküchen versorgen täglich Hunderte von bedürftigen Armeniern.
- Medizinische Programme, insbesondere Zahnkliniken, bieten Tausenden von Menschen eine kostenlose Behandlung.
- Unterstützungsinitiativen für verwundete Veteranen aus dem Berg-Karabach-Konflikt und für syrische Flüchtlinge zeigen praktische christliche Solidarität in einer Region, die von ethnischen und politischen Spannungen geprägt ist.
Diese karitativen Initiativen spiegeln die tief verwurzelte Tradition der armenischen Kirche als sozialer Stütze wider, die nicht nur den Glauben verkündet, sondern auch konkrete Hilfe leistet.
Herausforderungen und Kritik
Nicht alle Bewertungen seiner Amtszeit sind durchweg positiv. Kritiker in Armenien haben seine Herangehensweise an die Beziehungen zwischen Kirche und Staat in Frage gestellt. Sein Schweigen inmitten aktueller politischer Konflikte sorgt für Diskussionen. Seit der Samtenen Revolution 2018 steht die Kirche unter Druck der Regierung von Ministerpräsident Nikol Paschinjan, die versucht, ihren Einfluss im öffentlichen Leben zu beschneiden – etwa durch Steuerreformen, Streichung des Faches „Geschichte der Armenischen Kirche“ aus den Schulen oder Kritik an ihrer gesellschaftlichen Rolle. Viele Armenier sehen dies als Angriff auf ihre Identität und kritisieren die Regierung scharf.
Karekin II. bleibt überpolitisch, wählt den Weg der Demut und Zurückhaltung und lässt seine Arbeit sprechen. Diese Haltung wird jedoch ambivalent wahrgenommen: Während die einen seine Würde und Unabhängigkeit loben, werfen Kritiker ihm vor, in einer Zeit der Krise nicht laut genug für die Menschenrechte einzutreten.
Die Kritiker übersehen oft die differenzierte Position, die Karekin II. einnimmt. In einem Land, in dem Kirche und nationale Identität eng miteinander verwoben sind, spiegelt sein maßvoller Ansatz für politisches Engagement ein Bemühen um institutionelle Stabilität wider, anstatt sich kurzfristigen politischen Auseinandersetzungen hinzugeben.
Der Katholikos weiß, dass der tiefgreifendste Einfluss der Kirche nicht durch politische Verlautbarungen, sondern durch eine beständige spirituelle Präsenz und Einsatz im Sinne der Nächstenliebe entsteht.
Eine Kirche mit globaler Verantwortung
Da Armenien mit anhaltenden geopolitischen Herausforderungen konfrontiert ist – einschließlich der Spannungen mit Aserbaidschan und der komplexen Beziehungen zur Türkei – ist Karekins II. Betonung internationaler ökumenischer Partnerschaften sowohl von praktischer als auch von geistlicher Bedeutung.
Seine Pflege von Beziehungen zu religiösen Führern in aller Welt hat dazu beigetragen, das internationale Bewusstsein für die Situation Armeniens aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig hat er sich für den Ausbau der digitalen Präsenz der Kirche eingesetzt, um die Gläubigen in der weltweiten Diaspora zu erreichen.
Ein Vermächtnis der Hoffnung und Erneuerung
Die Führungsrolle von Karekin II. zeichnet sich durch genau diese Mischung aus traditionellem Engagement und modernem Einsatz aus. Während er die Traditionen ehrt, hat er sich zugleich den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gestellt.
Für die weltweite christliche Gemeinschaft stellt Karekin II. etwas zunehmend Wertvolles dar: eine Führungspersönlichkeit, die demonstriert, wie eine tief verwurzelte religiöse Tradition sich sinnvoll mit modernen Herausforderungen auseinandersetzen kann, ohne ihren wesentlichen Charakter zu gefährden.
Die armenische Kirche hat Jahrhunderte existenzieller Bedrohungen durch dieses präzise Gleichgewicht von Treue und Flexibilität überlebt, die wir in der Person Seiner Heiligkeit Karekin II, Katholikos Aller Armenier erleben.
In seinem dritten Jahrzehnt als Katholikos fungiert Karekin II. weiterhin sowohl als Hüter eines alten Glaubens als auch als Architekt seiner Zukunft. Für die Armenier in aller Welt und für die christliche Gemeinschaft im weiteren Sinne erinnert uns seine Führung daran, dass Traditionen nicht durch Starrheit, sondern durch eine durchdachte, mitfühlende Anpassung an den Wandel der Zeit überdauern.
Im Namen der Armenischen Gemeinde Baden-Württemberg und persönlich in meinem Namen gratuliere ich Seine Heiligkeit zum Namenstag und wünsche ihm Gottes Hilfe für seinen schwierigen Dienst als Oberhirte der Armenischen Apostolischen Kirche.