Warum wir Reliquien verehrten

Eine altehrwürdige Tradition mit tiefem geistlichem Sinn

Die Verehrung von Reliquien ist eine der ältesten und bedeutendsten Praktiken in der christlichen Heiligenverehrung. Bereits seit dem 2. Jahrhundert ist die Reliquienverehrung im Christentum nachweisbar. Interessanterweise wurde sie in der heidnischen Antike nicht geschätzt. Körperteile von Verstorbenen galten als unrein. Dennoch hat die Reliquienverehrung im Christentum eine bemerkenswerte Entwicklung erfahren.

Die Verehrung von Reliquien ist nicht nur in der katholischen Kirche verbreitet, sondern auch in anderen christlichen Traditionen, darunter der Armenischen Apostolischen Orthodoxen Kirche. Millionen von Gläubigen pilgern zu den Stätten, an denen heilige Überreste aufbewahrt werden. Während diese Praxis von Außenstehenden manchmal als seltsam oder sogar morbide wahrgenommen wird, haben sie eine tiefe spirituelle Bedeutung und ihre Wurzeln reichen weit in die Geschichte der Kirche zurück.

Was sagt die Bibel?

Bereits in der Bibel finden sich Berichte über die wundersame Wirkung von Reliquien. Sowohl im Alten als auch im Neuen Testament wird von Heilungen und anderen wundervollen Ereignissen berichtet, die mit Reliquien der Heiligen verbunden sind.

Im zweiten Buch der Könige wird zum Beispiel von einem Toten berichtet, der durch den Kontakt mit den Gebeinen des Propheten Elisa wieder zum Leben erweckt wurde (2 Kön 13,21). Ähnliche Geschichten finden sich auch im Neuen Testament, wie die Heilung der blutenden Frau durch Berührung des Saums von Jesu Gewand (Mt 9,20ff). In einer Passage der Apostelgeschichte reichte gar der Schatten des Apostels Petrus aus, der auf die Kranken am Wegesrand fiel und sie heilte (Apg 5,12-15). Dem heiligen Paulus schließlich wurden Schweiß- und Taschentücher entwendet und den Notleidenden aufgelegt; „da wichen die Krankheiten, und die bösen Geister fuhren aus“ (Apg 19,11f).

Der Zweifel der Reformation

Im Zuge der Reformation im 16. Jahrhundert wurden viele Traditionen und Praktiken der katholischen Kirche von den Reformern kritisch betrachtet. Eine dieser Praktiken, die vermehrt in Zweifel gezogen wurde, war die Verehrung von Reliquien. Martin Luther, einer der bedeutendsten Reformatoren, äußerte sich skeptisch darüber und machte sich über die Reliquienverehrung lustig. Er bezeichnete Reliquien abfällig als „alles tot‘ Ding“.

Luthers Kritik war Teil seines umfassenden Reformprogramms, das darauf abzielte, den Glauben auf die Bibel und die ursprünglichen Lehren des Christentums zu gründen. Er betonte die Bedeutung des persönlichen Glaubens an Christus und der Gnade Gottes als Grundlage des Heils. In diesem Zusammenhang zweifelte Luther an der Vorstellung, dass Reliquien übernatürliche Kräfte besitzen oder Wunder bewirken könnten.

Die Reformatoren stellten somit viele etablierte Praktiken und Traditionen der katholischen Kirche infrage und strebten eine Erneuerung des christlichen Glaubens an. Während die katholische Kirche weiterhin die Verehrung von Reliquien praktiziert, betonten die Reformatoren die Bedeutung eines persönlichen und direkten Glaubens an Christus, der nicht von äußeren Objekten abhängig ist.

Die Verehrung in der Armenischen Kirche

Die Verehrung von Reliquien hat in der Armenischen Apostolischen Kirche eine lange und bedeutsame Tradition. Sie ist ein zutiefst verwurzelter spiritueller Ausdruck des Glaubens der Gläubigen. Bereits der ehrwürdige Grigor Lusavoritsch (Gregor der Erleuchter), brachte nach seiner Bischofsweihe in Caesarea die heiligen Überreste des Hl. Johannes des Täufers und des Bischofs Atanagines mit nach Armenien. Diese kostbaren Reliquien wurden ihm vom Hl. Patriarchen Leontius von Caesarea, der in der orthodoxen Tradition auch als der „Engel des Friedens“ gefeiert wird, als Geschenk überreicht. Während der Reise nach Armenien ereigneten sich viele erstaunliche Wunder durch diese heiligen Reliquien. Der Hl. Grigor Lusavoritsch bestattete sie schließlich an den Orten Innaknya und Bagavan in der Region Ashtishat, wo später auch beeindruckende Kirchen errichtet wurden.

In der Armenischen Kirche werden die Überreste der Heiligen als äußerst wertvoll und von unschätzbarem Wert angesehen. Die Gläubigen hegen eine tiefe Verehrung für die Märtyrer und Heiligen, die sie als Jünger und Nachfolger des Herrn lieben und ehren, genauso wie sie Christus selbst verehren. Die Reliquien der Heiligen, die als Vorbilder für ein gottgefälliges Leben und Fürsprecher vor Gott gelten, werden als Zeichen der göttlichen Gnade betrachtet.

Die Heilungen und andere wundersame Ereignisse, die mit Reliquien in Verbindung gebracht werden, gehen in der Verständnis der Armenischen Kirche nicht von den Reliquien selbst aus, sondern von der göttlichen Kraft. Für die Gläubigen sind die Reliquien ein Symbol für die unmittelbare Gegenwart Gottes, wodurch sie Trost, Hoffnung und geistliche Stärkung erfahren.

Wichtig ist zu bemerken, dass die Lehre der Armenischen Apostolischen Orthodoxen Kirche klar und deutlich zwischen der Verehrung (griech. δουλια) der Reliquien und der Anbetung (griech. λατρεια), d.h. dem Lobpreis, der nur Gott allein zukommt, unterscheidet. Die Verehrung der Reliquien darf sich auf keinen Fall in einen Götzendienst verwandeln.

Von Pfr. Dr. Diradur Sardaryan