Kunst, Freiheit und die Grenzen
der Provokation

Ein Kommentar aus armenischer Perspektive auf „Sancta“

Als Priester der Armenischen Apostolischen Kirche und langjähriger Beobachter kultureller Entwicklungen in Stuttgart betrachte ich die jüngste Premiere des Stücks „Sancta“ in Stuttgart mit gemischten Gefühlen. Kunst besitzt ohne Frage die Fähigkeit, herauszufordern, Missstände zu entlarven und gesellschaftliche Normen infrage zu stellen. Doch was passiert, wenn die Provokation die Grenzen des Erträglichen überschreitet und religiöse Empfindungen grob verletzt werden?

Florentina Holzingers Inszenierung von „Sancta“ hat durch ihre radikale Darstellung von Gewalt und Sexualität viele Zuschauer körperlich und emotional an ihre Grenzen geführt. Allein die Tatsache, dass 18 Erste-Hilfe-Einsätze während der Aufführung notwendig waren, zeigt, wie heftig die Reaktionen auf diese Art von Theater waren. Trotz der Triggerwarnungen vorab bleibt die Frage bestehen: Muss Kunst in solche Extreme gehen?

Künstlerische Freiheit ist eine kostbare Errungenschaft. Sie ermöglicht es uns, ungesagte Wahrheiten zu beleuchten, Machtstrukturen zu hinterfragen und verdrängte Themen an die Oberfläche zu holen. Doch wie jede Freiheit hat auch diese Grenzen, und sie enden dort, wo sie das Fundament der menschlichen Würde und den Respekt vor tief verwurzelten Überzeugungen gefährdet. Holzingers Stück greift die jahrtausendealte Geschichte von Unterdrückung und Lustfeindlichkeit in der Kirche auf, aber statt konstruktiver Auseinandersetzung sehen wir eine Einfallslosigkeit, die auf bekannte Klischees zurückgreift.

Die armenisch-apostolische Tradition, die ich vertrete, ist nicht blind gegenüber den Fehlern der Vergangenheit, sei es im Missbrauch von Macht oder in der Unterdrückung von Frauen. Eine ernsthafte, respektvolle Auseinandersetzung mit diesen Themen ist notwendig und überfällig. Doch die Darstellung von Nonnen, die aus ihren klösterlichen Mauern ausbrechen, um eine sexuelle Befreiung zu erleben, ist nicht nur banal, sondern trivialisiert die tiefere spirituelle Realität, die das Klosterleben für viele darstellt.

In einer Zeit, in der die Gesellschaft mehr denn je nach Orientierung und Heilung sucht, sollte Kunst dazu beitragen, Brücken zu bauen – nicht, sie niederzureißen. Die Herausforderung besteht darin, die Balance zu finden: Kunst kann und soll provozieren, aber sie muss dies mit dem Ziel tun, Einsicht und Erneuerung zu fördern, nicht durch Schock und Sensation zu verführen.

Die Armenische Kirche sieht in der Kunst einen Weg, das Unsichtbare sichtbar zu machen, das Geistige im Materiellen zu erkennen. In diesem Sinne sind die Armenischen Kulturtage in Stuttgart konzipiert. Doch wenn Kunst dazu führt, dass Menschen physisch und psychisch geschädigt werden, wie es bei der Aufführung von „Sancta“ geschehen ist, müssen wir uns fragen, ob sie ihrer hohen Berufung noch gerecht wird. Das Publikum hat ein Recht darauf, herausgefordert zu werden, aber es hat auch ein Recht darauf, respektiert zu werden.

Als Priester und Gläubiger, aber auch als Kulturliebender, sehe ich in dieser Aufführung eine verpasste Chance. Eine Auseinandersetzung mit den dunklen Kapiteln der Kirchengeschichte ist nicht nur notwendig, sondern wird auch von den Gläubigen erwartet. Aber dies sollte auf eine Weise geschehen, die das Menschliche und das Heilige achtet, anstatt es zu entwürdigen. Kunst und Religion haben beide eine zentrale Rolle in der Förderung von Würde und Gerechtigkeit. Provokation, wenn sie richtig eingesetzt wird, hat das Potenzial, zu heilen und zu versöhnen – nicht zu spalten, aber nicht so, wie wir es in Stuttgart jungst gesehen haben.

Pfr. Dr. Diradur Sardaryan
Gemeindepfarrer der Armenischen Gemeinde
Baden-Württemberg