Jean Jansem:
Der Chronist des Medz Yeghern

Ein französisch-armenischer Maler
zwischen Trauma und Transzendenz

Von Pfr. Dr. Diradur Sardaryan

Vor einem tiefblauen Hintergrund schweben verzerrte Gestalten wie Geister zwischen Leben und Tod – Körper ohne Gewicht, doch schwer beladen mit Leid. In „Blaues Massaker“ (1999), einem der erschütterndsten Gemälde aus Jean Jansems „Massacres“-Serie, manifestiert sich die Essenz seines Spätwerks: die Verwandlung persönlichen Traumas in universelle Kunst. Der französisch-armenische Maler, geboren als Hovhannes Semerdjian (1920-2013), hat mit diesem Zyklus nicht nur ein künstlerisches Meisterwerk geschaffen, sondern auch eine visuelle Sprache für das Unsagbare – den Völkermord an den Armeniern, der bis heute im Schatten der Geschichte steht.

Vom Trauma zur Transzendenz

Als die Familie 1922 nach der griechischen Niederlage im griechisch-türkischen Krieg Seuleuze verlassen musste, war Jansem erst drei Jahre alt. Diese frühesten Eindrücke, verschwommen wie ein Albtraum, sollten seine künstlerische Vision für immer prägen – auch wenn es Jahrzehnte dauern würde, bis er den Mut fand, sie auf die Leinwand zu bannen.

Nach der Flucht über Thessaloniki erreichte die Familie 1931 Frankreich, wo der junge Hovhannes in Issy-les-Moulineaux aufwuchs. In Paris studierte er an der École des Arts Décoratifs und entwickelte einen Stil, der ihn in die Nähe der französischen Expressionisten rückte, doch mit einer ganz eigenen melancholischen Note. Anders als seine Zeitgenossen Bernard Buffet oder Francis Gruber, mit denen er oft verglichen wird, verband Jansem die expressionistische Formensprache mit einer zurückhaltenderen Farbpalette und einer tieferen psychologischen Durchdringung seiner Figuren.

Kunsthistorische Einordnung eines Außenseiters

In der Nachkriegskunst Frankreichs nahm Jansem eine Sonderstellung ein. Während die abstrakte Kunst dominierte und später die Nouveaux Réalistes und Popart die Szene beherrschten, blieb er der figurativen Malerei treu – ein Anachronismus, der paradoxerweise zu seiner Zeitlosigkeit beiträgt. Die französische Kritik ordnete ihn der „Misérabilisme“-Strömung zu, einer Richtung, die sich den Randständigen der Gesellschaft widmete. Doch anders als bei seinen Kollegen war Jansems Interesse an den „Elenden“ nicht soziologisch, sondern existenziell motiviert.

Seine Technik zeichnet sich durch eine präzise, oft fast zeichnerische Linienführung aus, die seine Figuren klar konturiert. Darüber legt er transparente Farbschichten, die den Gestalten eine schwebende Präsenz verleihen. Besonders charakteristisch ist seine Behandlung des Raums – die Figuren existieren oft in einer Art Vakuum, ohne klar definierte Umgebung, was ihre innere Isolation noch verstärkt. Diese formale Strategie erreicht in der „Massacres„-Serie ihren Höhepunkt, wo die blauen und grauen Hintergründe zu metaphysischen Räumen werden, in denen die Zeit stillsteht.

Der späte Mut zur Erinnerung

Erst im hohen Alter wagte Jansem die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Völkermord, der sein Leben und das seiner Familie so tiefgreifend geprägt hatte. Diese Worte werfen ein bezeichnendes Licht auf die psychologische Last, die er sein Leben lang trug. Erst zwischen 1998 und 2001, im Alter von fast 80 Jahren, schuf er die 34 Gemälde umfassende „Massacres„-Serie.

Diese späte Konfrontation mit dem Trauma seiner Kindheit markiert nicht nur einen künstlerischen Höhepunkt, sondern auch eine persönliche Katharsis. Die jahrzehntelange Verzögerung lässt sich als notwendiger Reifungsprozess verstehen – Jansem musste erst die technischen und emotionalen Mittel entwickeln, um dem Grauen Form zu geben, ohne von ihm überwältigt zu werden. Im Vergleich zu Pablo Picassos berühmtem „Guernica“ (1937), das unmittelbar auf die Bombardierung der baskischen Stadt reagierte, ist Jansems „Massacres“ eine langverzögerte Antwort, die gerade durch diese zeitliche Distanz eine besondere Tiefe gewinnt.

Die visuelle Sprache des Gedenkens

Die „Massacres„-Serie unterscheidet sich stilistisch von Jansems früheren Werken durch ihre noch radikalere Formsprache. Die Körper sind stärker verzerrt, die Komposition dichter, die emotionale Intensität gesteigert. Besonders auffällig ist die dominierende Farbgebung – ein kühles, gespenstisches Blau, das die Szenen in eine unwirkliche, jenseitige Atmosphäre taucht. Diese chromatische Entscheidung schafft eine paradoxe Wirkung: Sie ästhetisiert das Grauen und macht es dadurch erst erträglich für den Betrachter, ohne es zu verharmlosen.

In „Deportation“ (2000-2001) verdichtet Jansem die Erfahrung des Vertreibungsmarsches zu einer beklemmenden Prozession gesichtsloser Gestalten. Die Figuren verschmelzen zu einer kollektiven Einheit, was sowohl das Ausmaß der Tragödie als auch die Entmenschlichung der Opfer visualisiert. Durch subtile Variationen in Haltung und Gestik individualisiert er dennoch einzelne Figuren – ein künstlerisches Verfahren, das an mittelalterliche Darstellungen des Totentanzes erinnert, jedoch mit einer modernistischen Formensprache.

Rezeption und kulturelle Resonanz

Die erste umfassende Ausstellung der „Massacres„-Serie fand 2001 im Centre Culturel Calouste Gulbenkian in Paris statt und löste sowohl in der französischen Kunstwelt als auch in der armenischen Diaspora starke Reaktionen aus. Die französische Tageszeitung „Le Monde“ sprach von einem visuellen Testament, das die Grenzen zwischen persönlicher Erinnerung und kollektivem Gedächtnis aufhebt. Bemerkenswert ist auch die Resonanz in Japan, wo Jansem bereits seit den 1970er Jahren eine außergewöhnliche Wertschätzung genießt – zwei Museen in der Präfektur Nagano sind ausschließlich seinem Werk gewidmet. Diese transkulturelle Anschlussfähigkeit seiner Kunst verdeutlicht ihre universelle Dimension.

Die Schenkung der gesamten Serie an das Genozid-Museum in Eriwan im Jahr 2001 war ein Akt von hoher symbolischer Bedeutung. Bei seinem Besuch in Armenien auf Einladung des damaligen Präsidenten Robert Kocharyan vollzog Jansem damit eine Art künstlerische Heimkehr. Die Werke wurden bis 2013 in einem eigenen Saal des Museums ausgestellt und zogen zahlreiche Besucher an, bevor sie in die Archive übergingen – ein Umstand, der angesichts ihrer Bedeutung kritische Fragen aufwirft.

Zwischen zwei Welten –
ein Leben in der Diaspora

Jansems lebenslange Spannung zwischen seinen armenischen Wurzeln und seiner französischen Wahlheimat prägte sein Selbstverständnis. Die Erfahrung der Diaspora und das Leben zwischen zwei Kulturen prägten sein Selbstverständnis. Als Künstler mit armenischen Wurzeln in Frankreich bewegte er sich zeitlebens zwischen verschiedenen Welten. Diese Erfahrung der Entwurzelung teilte er mit vielen Überlebenden des Völkermords und ihren Nachkommen. In seinem Werk wird sie zu einer existentiellen Metapher für die menschliche Condition – ein Thema, das weit über den armenischen Kontext hinausweist.

Seine internationale Anerkennung manifestierte sich in zahlreichen Auszeichnungen, darunter der Prix Populiste (1951), der Prix Antral (1953), die Aufnahme in die französische Ehrenlegion (2003) und der Ehrenorden Armeniens (2010). Dennoch blieb er in gewisser Weise ein Außenseiter des Kunstbetriebs – zu eigenständig für eindeutige Kategorisierungen, zu tiefgründig für oberflächliche Rezeption.

Ein universelles Vermächtnis

Als Jean Jansem am 27. August 2013 in Clamart bei Paris starb, hinterließ er ein Werk, das weit über nationale oder historische Grenzen hinausreicht. Seine „Massacres„-Serie ist mehr als eine künstlerische Aufarbeitung des armenischen Völkermords – sie ist eine universelle Reflexion über menschliches Leid, Erinnerung und Transzendenz. In einer Zeit, in der die Relativierung historischer Verbrechen wieder zunimmt, erinnern uns Jansems Gemälde an die ethische Dimension der Kunst.

Jansems künstlerisches Schaffen lässt sich als ein fortwährendes Bezeugen verstehen – eine Transformation persönlicher und kollektiver Geschichte in eine universelle visuelle Sprache. In diesem Sinne hat er seiner armenischen Herkunft, seiner französischen Wahlheimat und der Weltkunst ein unschätzbares Geschenk hinterlassen – Bilder, die das Unaussprechliche in eine Sprache übersetzen, die jenseits aller Worte verstanden werden kann. Seine Kunst überwindet das Paradoxon des Gedenkens: Sie macht das Vergangene gegenwärtig, ohne seine Fremdheit zu leugnen, und verwandelt persönliches Trauma in kollektive Erinnerung, ohne seine Intimität zu verletzen.

Weitere Infos:
https://jansem.ch/jean-jansem
https://webmuseo.com/ws/jeanjansem