Von der Schöpfung zur Auferstehung:
Die Fußwaschung –
Die Demut als Weg zur Größe
5. Woche, Montag (31. März 2025):
Biblische Lesung für den Tag:
Johannes 13:1-15; Philipper 2:5-11
Das Paradox der dienenden Herrschaft
„Jesus stand vom Mahl auf, legte sein Obergewand ab und umgürtete sich mit einem Leinentuch. Dann goss er Wasser in eine Schüssel und begann, den Jüngern die Füße zu waschen und mit dem Leinentuch abzutrocknen, mit dem er umgürtet war.“ (Joh 13,4-5)
Während wir uns der Karwoche nähern, werden wir mit einer der erstaunlichsten Szenen der Evangelien konfrontiert – einem Moment, in dem die göttliche Logik in ihrer ganzen paradoxen Kraft offenbar wird. Der Herr und Meister kniet vor seinen Jüngern und verrichtet einen Dienst, der in der antiken Welt Sklaven vorbehalten war. Es ist eine Geste, die die damalige Gesellschaftsordnung auf den Kopf stellt und ein neues Verständnis von Autorität, Macht und Größe einführt.
Die Fußwaschung steht im Johannesevangelium an der Stelle, wo die anderen Evangelien die Einsetzung der Eucharistie berichten. Dies ist kein Zufall, sondern eine theologische Entscheidung des Evangelisten: Die Fußwaschung ist für Johannes die konsequente Auslegung dessen, was in der Eucharistie geschieht – die totale Selbsthingabe Christi, die Verwandlung von Herrschaft in Dienst, von Macht in Liebe.
In der armenischen Tradition wird die Fußwaschung (vodnaluva) am Gründonnerstag in einem feierlichen Ritual nachvollzogen. Der Bischof oder Priester wäscht zwölf ausgewählten Personen die Füße, um die Handlung Christi zu vergegenwärtigen. Dieses Ritual ist nicht bloß eine Erinnerung an ein vergangenes Ereignis, sondern eine sakramentale Vergegenwärtigung der dienenden Liebe Christi und ein Aufruf an alle Gläubigen, diesem Beispiel zu folgen.
Nach unserer Betrachtung des leidenden Gottesknechtes in der letzten Woche wenden wir uns nun einem konkreten Beispiel dieser dienenden Hingabe zu. Die Fußwaschung ist gleichsam die dramatische Veranschaulichung dessen, was in Jesaja 53 prophetisch vorhergesagt wurde – der Gottesknecht, der sich erniedrigt, um zu dienen und zu retten.
Die Symbolik der Fußwaschung:
Eine mehrdimensionale Zeichenhandlung
Die Fußwaschung ist eine vielschichtige symbolische Handlung, die verschiedene Dimensionen des Heilswerkes Christi und der christlichen Existenz offenbart:
1. Die soziale Dimension: Die Umkehrung der Hierarchie
Im sozialen Kontext des antiken Nahen Ostens war das Waschen der Füße eine notwendige, aber erniedrigende Aufgabe. Die staubigen, unbefestigten Straßen machten es erforderlich, dass Gäste bei ihrer Ankunft die Füße gewaschen bekamen – eine Aufgabe, die in der Regel von Sklaven oder den niedrigsten Familienmitgliedern verrichtet wurde.
Wenn Jesus, der von seinen Jüngern als „Meister“ (didaskalos) und „Herr“ (kyrios) anerkannt wird, sich dieser Aufgabe annimmt, vollzieht er einen radikalen Bruch mit den sozialen Konventionen. Er stellt die etablierte Hierarchie buchstäblich auf den Kopf: Der Höchste wird zum Niedrigsten, der Meister zum Diener.
Diese soziale Umkehrung ist kein zufälliger Akt der Demut, sondern offenbart das Wesen des Gottesreiches, wie Jesus es an anderer Stelle formuliert: „Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein“ (Mk 9,35). Die Fußwaschung ist die dramatische Visualisierung dieses Prinzips.
2. Die sakramentale Dimension: Reinigung und Teilhabe
Der Dialog zwischen Jesus und Petrus offenbart eine tiefere, sakramentale Bedeutung der Fußwaschung:
„Da kam er zu Simon Petrus. Dieser sagte zu ihm: Du, Herr, willst mir die Füße waschen? Jesus antwortete ihm: Was ich tue, verstehst du jetzt noch nicht; doch später wirst du es begreifen. Petrus entgegnete ihm: Niemals sollst du mir die Füße waschen! Jesus erwiderte ihm: Wenn ich dich nicht wasche, hast du keinen Anteil an mir.“ (Joh 13,6-8)
Die Worte Jesu – „Wenn ich dich nicht wasche, hast du keinen Anteil an mir“ – deuten auf eine sakramentale Dimension hin. Das griechische Wort für „Anteil“ (meros) impliziert eine tiefe Gemeinschaft und Teilhabe. Die Fußwaschung wird so zu einem Zeichen für die reinigende Kraft des Todes Christi und die Notwendigkeit, diese Reinigung anzunehmen.
In der patristischen Tradition wurde die Fußwaschung oft mit der Taufe in Verbindung gebracht. Der heilige Ambrosius von Mailand (ca. 340-397) sieht in ihr ein Zeichen der Reinigung von der Erbsünde. Der heilige Augustinus (354-430) interpretiert sie als Symbol für die tägliche Reinigung von den „Sünden des Staubes“, die selbst die Getauften noch nötig haben.
3. Die ethische Dimension: Der Aufruf zur Nachahmung
Jesus schließt die Fußwaschung mit einer klaren Aufforderung an seine Jünger:
„Wenn nun ich, der Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, dann müsst auch ihr einander die Füße waschen. Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe.“ (Joh 13,14-15)
Diese Worte machen deutlich, dass die Fußwaschung nicht nur ein einmaliger Akt der Demut Jesu ist, sondern ein Paradigma für das Leben der Jünger. Die Nachfolge Christi bedeutet, seinem Beispiel des dienenden Liebeshandelns zu folgen.
Der heilige Johannes Chrysostomos (ca. 349-407) betont in seinen Predigten, dass diese Nachahmung nicht nur symbolisch, sondern konkret zu verstehen ist: „Lass uns nicht nur die Fußwaschung beim Namen nennen, sondern sie in die Tat umsetzen, nicht nur mit Wasser, sondern mit unserer Liebe.“ Diese aktive Nachahmung Christi ist der Kern der christlichen Ethik.
4. Die christologische Dimension: Die Kenosis Christi
Die tiefste Dimension der Fußwaschung liegt in ihrer Offenbarung des Wesens Christi selbst. Die Selbsterniedrigung Jesu beim letzten Abendmahl ist ein Zeichen seiner umfassenderen Selbstentäußerung (kenosis), wie sie im Philipperhymnus beschrieben wird:
„Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.“ (Phil 2,6-8)
Die Fußwaschung ist somit eine prophetische Zeichenhandlung, die das gesamte Erlösungswerk Christi symbolisiert – seine Menschwerdung, seine Selbsterniedrigung und seinen stellvertretenden Tod am Kreuz. Sie zeigt, dass die Herrlichkeit Gottes nicht in weltlicher Macht, sondern in dienender Liebe besteht.
Die Fußwaschung in der theologischen Tradition
In der Geschichte der Theologie wurde die Fußwaschung auf verschiedene Weise interpretiert und vertieft:
1. Kyrill von Jerusalem: Fußwaschung als Taufvorbereitung
Der heilige Kyrill von Jerusalem (ca. 313-386) verbindet in seinen mystagogischen Katechesen die Fußwaschung mit der Taufe. Für ihn ist sie ein Symbol der Reinigung, die der Täufling empfängt, und zugleich eine Erinnerung an die Verpflichtung des Getauften, ein Leben des Dienstes zu führen.
Diese doppelte Bedeutung – Reinigung und Dienst – findet sich auch in der Liturgie der Armenischen Kirche wieder, wo die Fußwaschung am Gründonnerstag einerseits als Zeichen der Reinigung und andererseits als Aufruf zum demütigen Dienst verstanden wird.
2. Origenes: Die spirituelle Reinigung der „Füße“
Der frühchristliche Theologe Origenes (ca. 185-254) entwickelt in seinen Kommentaren eine allegorische Deutung der Fußwaschung. Für ihn symbolisieren die Füße den Teil des Menschen, der mit der Erde in Berührung kommt und daher besonders anfällig für Beschmutzung ist – die niederen Begierden und irdischen Anhaftungen.
Die Waschung der Füße durch Jesus bedeutet in dieser Interpretation die Reinigung von diesen irdischen Anhaftungen und die Befähigung, den geistlichen Weg zu gehen. Diese spirituelle Deutung wird in der östlichen monastischen Tradition aufgegriffen, wo die Fußwaschung als Symbol für die innere Reinigung verstanden wird, die zur Kontemplation führt.
3. Thomas von Aquin: Das Beispiel der vollkommenen Liebe
Der heilige Thomas von Aquin (1225-1274) betont in seiner „Summa Theologiae“ den exemplarischen Charakter der Fußwaschung. Für ihn ist sie das vollkommene Beispiel der christlichen Liebe, die nicht bei Worten stehen bleibt, sondern sich in konkreten Taten zeigt.
Thomas sieht in der Fußwaschung auch ein Zeichen der demütigen Anerkennung der Menschwerdung Christi. Indem Jesus die staubigen Füße seiner Jünger wäscht, bezeugt er die Annahme der menschlichen Natur mit all ihren Begrenzungen und Schwächen.
Die Transformation der Macht
Die Fußwaschung stellt ein traditionelles Verständnis von Macht und Autorität radikal in Frage und bietet ein alternatives Modell an:
1. Die Umkehrung der Machtpyramide
In der Welt wird Macht typischerweise als Kontrolle über andere verstanden. Die Machthaber stehen an der Spitze der Pyramide und üben Autorität über die unter ihnen Stehenden aus. Diese Struktur findet sich in politischen Systemen, wirtschaftlichen Organisationen und oft auch in religiösen Institutionen.
Jesus kehrt diese Pyramide um. In seinem Verständnis steht der Mächtigste nicht an der Spitze, sondern am Fuß der Pyramide, wo er die Last aller anderen trägt. Wahre Autorität besteht nicht im Beherrschen, sondern im Dienen. Das ist keine Absage an Führung, sondern ihre Neuinterpretation: Der wahre Führer ist der, der sich für das Wohl der Geführten hingibt.
Diese Umkehrung der Machtpyramide ist kein politisches Programm, sondern eine geistliche Realität, die im Leben Jesu und besonders in der Fußwaschung sichtbar wird.
2. Die Verwandlung von Macht in Liebe
In der Fußwaschung verwandelt Jesus Macht in Liebe. Er nutzt seine göttliche Autorität nicht, um zu dominieren, sondern um zu dienen und zu lieben. Der Evangelist macht diese Verbindung deutlich, wenn er schreibt: „Da er die Seinen liebte, die in der Welt waren, liebte er sie bis zur Vollendung.“ (Joh 13,1)
Diese Verwandlung von Macht in Liebe ist das Kennzeichen des christlichen Lebens. Der Apostel Paulus drückt dies so aus: „Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der in der Liebe wirksam ist.“ (Gal 5,6)
In der armenischen spirituellen Tradition wird diese Verwandlung besonders in den Gebeten des heiligen Gregor von Narek (951-1003) betont. In seinem „Buch der Klagen“ (Matean Voghbergutean) beschreibt er Gott nicht als distanzierten Herrscher, sondern als liebenden Vater, der sich zu den Niedrigsten herabneigt.
3. Die Enthüllung des wahren Gottesbildes
Die Fußwaschung enthüllt letztlich das wahre Wesen Gottes. Gegen ein Bild Gottes als distanziertem, allmächtigem Herrscher zeigt Jesus einen Gott, der sich in Liebe hingibt und dient.
Der Kirchenvater Irenäus von Lyon (ca. 135-202) hat dies in seinem berühmten Wort ausgedrückt: „Die Herrlichkeit Gottes ist der lebendige Mensch, das Leben des Menschen aber ist die Schau Gottes.“ In der Fußwaschung sehen wir diese Herrlichkeit Gottes – nicht als blendenden Glanz, sondern als dienende Liebe, die den Menschen zum Leben führt.
Diese Offenbarung hat weitreichende Konsequenzen für unser Verständnis von Gott, vom Menschen und von der Kirche. Wenn Gott selbst ein dienender Gott ist, dann ist der Mensch zur Gottebenbildlichkeit berufen, indem er ebenfalls zum Diener wird.
Demut als Weg zur wahren Menschlichkeit
Die Fußwaschung wirft tiefgreifende philosophische Fragen über das Wesen der menschlichen Existenz und die Natur wahrer Größe auf:
1. Nietzsches Kritik der christlichen Demut
Der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche (1844-1900) kritisierte die christliche Demut als „Sklavenmoral“ – als eine Form der Selbsterniedrigung, die aus Schwäche und Ressentiment geboren sei. Für Nietzsche ist der „Übermensch“ derjenige, der seinen Willen zur Macht bejaht und sich über die Masse erhebt.
Diese Kritik zielt jedoch an der wahren Bedeutung der christlichen Demut vorbei. Die Demut Christi in der Fußwaschung ist nicht Ausdruck von Schwäche, sondern von Stärke – der Stärke, die nicht auf Anerkennung und Status angewiesen ist, sondern die sich frei hingebend verschenken kann.
2. Levinas und die Ethik der Verantwortung
Der jüdische Philosoph Emmanuel Levinas (1906-1995) entwickelt eine Ethik, die bemerkenswerte Parallelen zur christlichen Vorstellung der dienenden Liebe aufweist. Für Levinas entsteht wahre Subjektivität nicht in der Selbstbehauptung, sondern in der Verantwortung für den Anderen.
In der Begegnung mit dem „Antlitz des Anderen“ erfährt der Mensch einen unbedingten ethischen Anspruch, der vor jeder bewussten Entscheidung liegt. Diese Verantwortung für den Anderen ist nicht eine Option unter vielen, sondern konstituiert die menschliche Existenz.
Levinas‘ Ethik resoniert mit der christlichen Vorstellung der dienenden Liebe, wie sie in der Fußwaschung zum Ausdruck kommt. Jesus begegnet seinen Jüngern nicht als abstraktes Gegenüber, sondern kniet vor ihnen nieder und berührt ihre staubigen Füße – eine konkrete Geste der Verantwortung und Sorge.
3. Die Dialektik von Selbstverlust und Selbstfindung
Die Fußwaschung illustriert ein Paradox, das im Zentrum des christlichen Verständnisses des menschlichen Lebens steht: Der Mensch findet sich selbst, indem er sich verliert. Jesus drückt dieses Paradox so aus: „Wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, wird es finden.“ (Mt 16,25)
In der dienenden Hingabe, die auf den ersten Blick als Selbstaufgabe erscheint, findet der Mensch paradoxerweise seine wahre Identität. Die Fußwaschung ist somit nicht nur ein ethisches Beispiel, sondern eine Offenbarung über das Wesen der menschlichen Existenz: Der Mensch ist am meisten Mensch, wenn er für andere da ist.
Diese Dialektik von Selbstverlust und Selbstfindung wird in der christlichen mystischen Tradition tief reflektiert. Der Mystiker Meister Eckhart (ca. 1260-1328) spricht von der „Gelassenheit“ – dem Loslassen des Ego, das zur Erfahrung des wahren Selbst in Gott führt.
Praktische Übungen für die Fastenzeit
Die Fußwaschung fordert uns heraus, Demut und dienende Liebe nicht nur als Ideale zu bewundern, sondern in unserem Leben zu praktizieren. Hier sind einige konkrete Übungen für diese Woche der Fastenzeit:
1. Die Übung des konkreten Dienens
Wähle bewusst eine Aufgabe, die normalerweise als „niedrig“ oder unangenehm gilt, und führe sie mit Liebe und Achtsamkeit aus. Dies könnte das Reinigen eines gemeinsam genutzten Raumes sein, das Übernehmen einer lästigen Pflicht für jemand anderen oder ein Dienst an jemandem, der krank oder bedürftig ist.
Diese Übung des konkreten Dienens ist nicht nur eine moralische Anstrengung, sondern eine spirituelle Praxis, die uns hilft, dem Beispiel Christi zu folgen und die Freude des selbstlosen Gebens zu erfahren.
2. Das Examen der Machtverhältnisse
Nimm dir Zeit, über die Machtverhältnisse in deinem Leben nachzudenken. Wo hast du Autorität über andere – sei es in der Familie, am Arbeitsplatz oder in anderen Bereichen? Wie nutzt du diese Macht? Dient sie dem Wohl der anderen oder deinem eigenen Status und Vorteil?
Überlege, wie du deine Autorität mehr in den Dienst anderer stellen könntest – nicht durch Aufgabe deiner Verantwortung, sondern durch eine dienende Ausübung deiner Rolle. Die Fußwaschung erinnert uns daran, dass Autorität und Dienst keine Gegensätze sind, sondern zusammengehören.
3. Die Praxis der inneren Demut
Die äußere Geste der Fußwaschung entspringt einer inneren Haltung der Demut. Übe dich in dieser inneren Demut, indem du bewusst auf Selbstdarstellung und Rechthaberei verzichtest. Höre anderen aufmerksam zu, ohne sofort zu urteilen oder zu antworten. Erkenne an, wo du von anderen lernen kannst, auch von jenen, die weniger Erfahrung oder Status haben als du.
Diese Praxis der inneren Demut ist nicht Selbstabwertung, sondern Wahrheit – die Anerkennung unserer tatsächlichen Begrenztheit und Abhängigkeit von Gott und anderen.
4. Meditation über Philipper 2,5-11
Nimm dir Zeit für eine meditative Lektüre des Philipperhymnus (Phil 2,5-11), der die Selbstentäußerung Christi beschreibt. Lies den Text langsam und aufmerksam, verweile bei einzelnen Worten oder Phrasen und lass ihre Bedeutung in dich einsinken.
Diese Meditation kann dir helfen, die Fußwaschung im größeren Kontext des gesamten Heilswerkes Christi zu verstehen – als Teil seiner liebenden Selbstentäußerung, die in der Kreuzigung gipfelt und zur Erhöhung führt.
Gebet im Geist der Fußwaschung
Herr Jesus Christus,
du hast dich zum Diener aller gemacht
und in der Fußwaschung gezeigt,
dass wahre Größe im Dienen liegt.
Gib mir die Gnade der Demut,
die nicht aus Schwäche geboren ist,
sondern aus der Kraft deiner Liebe.
Hilf mir, die falschen Vorstellungen von Macht abzulegen,
die mich davon abhalten, anderen zu dienen.
Befreie mich von dem Bedürfnis,
mich über andere zu erheben
oder meinen Wert durch Status zu beweisen.
Lehre mich, wie du zu lieben –
nicht aus der Ferne und von oben herab,
sondern in konkreten Gesten der Hingabe und Fürsorge.
Lass mich die Freude erfahren,
die aus dem selbstlosen Dienen kommt,
und die Freiheit, die in der Demut liegt.
In dieser Fastenzeit führe mich tiefer
in das Geheimnis deiner dienenden Liebe ein,
damit ich mit dir den Weg zum Kreuz gehen kann –
den Weg, der durch Hingabe zum Leben führt.
Amen.
Die Fußwaschung als Vorwegnahme des Kreuzes
Die Fußwaschung ist nicht ein isolierter Akt der Demut, sondern eine prophetische Zeichenhandlung, die das gesamte Erlösungswerk Christi vorwegnimmt und enthüllt. Sie steht in direkter Verbindung zum Kreuz – beide sind Manifestationen derselben dienenden Liebe, die sich bis zum Äußersten hingibt.
Das Johannesevangelium macht diese Verbindung deutlich, wenn es die Fußwaschung mit den Worten einleitet: „Da er die Seinen liebte, die in der Welt waren, liebte er sie bis zur Vollendung“ (Joh 13,1). Diese „Vollendung“ (telos) findet sich im Kreuzestod Jesu, wo er ausruft: „Es ist vollbracht“ (tetelestai) (Joh 19,30). Die Fußwaschung und das Kreuz sind zwei Momente derselben vollkommenen Liebe.
In der Fußwaschung enthüllt Jesus das Wesen seiner Herrschaft: eine Herrschaft, die durch Dienen ausgeübt wird und sich in der totalen Selbsthingabe vollendet. Sein Königtum ist nicht von dieser Welt (Joh 18,36) – es folgt nicht der Logik weltlicher Macht, sondern der Logik der dienenden Liebe.
Die armenische Tradition sieht in der Fußwaschung eine Ikone der wahren Kirche. Wie Christus sich zum Diener aller macht, so ist die Kirche berufen, nicht zu herrschen, sondern zu dienen – besonders den Armen, Ausgegrenzten und Leidenden. Diese dienende Identität der Kirche wird in der Liturgie der Fußwaschung am Gründonnerstag vergegenwärtigt, wenn der Bischof oder Priester den Gläubigen die Füße wäscht.
In dieser fünften Woche der Fastenzeit, während wir uns der Karwoche nähern, sind wir eingeladen, mit Christus den Weg der dienenden Hingabe zu gehen – einen Weg, der am Kreuz gipfelt und in der Auferstehung seine Rechtfertigung findet. Die Fußwaschung erinnert uns daran, dass dieser Weg nicht ein Weg der Selbstaufgabe, sondern der Selbstfindung ist: „Wer sein Leben um meinetwillen verliert, wird es finden“ (Mt 16,25).
Pfr. Dr. Diradur Sardaryan