Zwischen Macht und Demut
Eine Reflexion über eine zerbrechende Welt
Von Pfarrer Dr. Diradur Sardaryan
Die Weltordnung, wie wir sie nach dem Zweiten Weltkrieg kannten, liegt in Trümmern. In Arzach wurden 2023 über 120.000 Armenier aus ihren Häusern vertrieben, ein Akt roher Macht, der die Wunden meines Volkes erneut aufriss. In Syrien hat ein Jahrzehnt des Bürgerkriegs Millionen entwurzelt, während Großmächte ihre Interessen über das Leid der Menschen stellen. In der Ukraine kämpfen seit 2022 Nationen um geopolitische Vorherrschaft, und kleine Völker zahlen den Preis für den Hunger nach Ressourcen wie Gas und Getreide. Die Tech-Industrie, verstärkt durch eine Ära der Deregulierung nach Trump, formt eine neue Macht – subtil, psychologisch, allgegenwärtig. Daten sind die neuen Waffen, Kontrolle der neue Kriegsschauplatz. In dieser Welt, in der Stärke über Gerechtigkeit triumphiert, stellt sich gerade in der Großen Fastenzeit eine dringliche Frage: Wie können wir Macht neu denken, bevor sie uns zerstört?
Als Theologe sehe ich in der Großen Fastenzeit einen Anlass, innezuhalten und Antworten zu suchen. Die armenische theologische Tradition, die mein Leben prägt, lehrt uns, dass wahre Macht nicht in Dominanz liegt, sondern in Demut – jener Kraft, die Christus in der Kenosis zeigte, als er sich entäußerte und zum Diener wurde (Philipper 2,7). Doch in einer Welt, in der die Mächtigen ihre Stärke nicht freiwillig zügeln, bleibt die Diskrepanz: Wenn die Demütigen demütig bleiben, werden die Schwachen nur schwächer. Wie können wir dieses Paradox lösen?
Die Gefahren unkontrollierter Macht
Die Konflikte unserer Zeit offenbaren die zerstörerische Natur unkontrollierter Macht. In Arzach wurde ein Volk vertrieben, weil geopolitische Interessen und militärische Überlegenheit über Menschenrechte gestellt wurden – ein Verstoß gegen die Würde, die unsere Kirche als Abbild Gottes in jedem Menschen verteidigt. In Syrien hat die Gier nach Einfluss eine humanitäre Katastrophe geschaffen, während in der Ukraine der Kampf um Rohstoffe zeigt, wie Macht die Schöpfung selbst bedroht. Die Tech-Industrie, mit Giganten wie X oder KI-Firmen (und zwar nicht nur von Silicon Valley) von, fügt eine neue Ebene hinzu: Sie prägt unser Denken, ohne dass wir es merken. Der Philosoph Byung-Chul Han nennt dies „Psychopolitik“ – eine Macht, die uns nicht zwingt, sondern verführt, uns selbst auszubeuten.
Diese Dynamik ist nicht nur politisch, sondern auch psychologisch. Angst und Gier treiben Staaten und Individuen an, Macht anzuhäufen, während die Schwachen – kleine Völker, Minderheiten – zermalmt werden. Als Moraltheologe sehe ich hier eine Krise des Gewissens: Wir haben die Verletzlichkeit des anderen vergessen, die Judith Butler als Grundlage jeder Ethik beschreibt. Ohne diese Anerkennung wird Macht zur zerstörerischen Kraft, zum Selbstzweck, nicht zum Dienst.
Die Fastenzeit als Gegenentwurf
Die Große Fastenzeit, ein Herzstück der armenischen Spiritualität, bietet einen radikalen Gegenentwurf. Sie ist eine Schule der Demut, die uns lehrt, Macht abzulegen – durch Fasten die Illusion der Selbstgenügsamkeit zu durchbrechen, durch Gebet uns Gott zuzuwenden, durch Almosen die Schwachen zu stärken. In einer Zeit, in der Tech-Mogule und Großmächte herrschen, erinnert sie uns an Christi Worte:
„Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und ihre Großen ihre Macht gegen sie gebrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele“
Doch diese Demut ist keine Schwäche; sie ist eine aktive Kraft, die Mut und Selbstbeherrschung verlangt.
Als Armenier denke ich an meine vertriebenen Brüder und Schwestern in Arzach. Ich bin verzweifelt. Doch die Fastenzeit fordert uns auf, nicht nur zu trauern, sondern zu handeln – solidarisch, wie Cornel West es mit seiner Vision von Liebe als politischer Kraft vorschlägt. Sie fragt uns: Welche Macht regiert dein Herz? Die der Selbstbehauptung oder die der Liebe?
Die Rolle der Kirche: Prophetie und Praxis
Die armenische Kirche, verwurzelt in der Tradition der Märtyrer und Bekenner, hat eine Verantwortung. Sie muss, zusammen mit ihren Schwester-Gemeinschaften der Ökumene, prophetisch sprechen und die Menschenrechte verteidigen, die aus unserer Sicht in der Würde jedes Menschen als Ebenbild Gottes gründen. In einer säkularen Welt, die Demut als Schwäche missversteht, müssen wir zeigen, dass sie die tiefste Kraft ist. Doch Worte reichen nicht. Wir müssen handeln: humanitäre und seelische Hilfe für die Opfer leisten, Bildung fördern, die Abhängigkeit von Tech-Kontrollen zu brechen, diplomatisch für kleine Völker wie die Armenier eintreten aber vor allem uns selbst die Frage stellen: was ist uns heilig und wofür brennt unser Herz, sowohl persönlich, als auch gesellschaftlich.
Martha Nussbaums Fähigkeitenansatz bietet hier eine Brücke: Macht sollte nicht unterdrücken, sondern befähigen – Bildung, Schutz und Stimme für die Schwachen schaffen. Wie sollen aber kleine Völker, Minderheiten, die Außenseiter in den Augen der Mächtigen, die Großen und Mächtigen dazu bringen, dass diese sich an gewisse Regeln halten? Hat hier die Geschichte von David und Goliath (1. Samuel 17, 11-51) uns etwas zu sagen? Die Kirchen sollten auf jeden Fall aktiv werden, indem sie gemeinsam Strukturen der Gerechtigkeit aufbauen, nicht nur in der Predigt sondern auch in der Tat. Die Mächtigen dieser Welt werden nicht freiwillig zuhören. Es braucht Druck: von Gemeinschaften, die sich organisieren, und von Stimmen, die laut werden.
Macht neu denken
Die Weltordnung funktioniert nicht, weil sie Macht als Dominanz missversteht, weil Geir nach immer mehr jegliches Frieden und jegliche Gerechtigkeit zerstört. Wir brauchen eine Ordnung, in der Macht Verantwortung ist – Staaten ihre Waffen niederlegen, Tech-Firmen ihre Datenkontrolle aufgeben, wir alle unsere Gier überwinden. Es klingt wie eine Utopie, doch wenn wir nicht handeln wird es Konsequenzen haben für die gesamte Welt. Das Leid der Minderheiten – meiner armenischen Brüder und Schwestern, der Syrer, der Ukrainer, der Afrikaner und all der unterdrückten Völker – endet nicht durch Appelle, sondern durch Strukturen, die Gerechtigkeit erzwingen. Slavoj Žižek warnt uns, die Ideologie der Macht zu durchschauen, die uns als „natürlich“ verkauft wird. Die Fastenzeit zeigt uns den Weg: Demut als Kraft und Macht als Verantwortung, die Schwachen stärkt.
Als Einzelne beginnt die Veränderung in unseren Herzen – indem wir die Werke der Liebe ausüben. Als Kirche müssen wir eine Stimme für die Unterdrückten sein. Als Gesellschaft müssen wir dringend Macht neu definieren: nicht als Sieg über andere, sondern als Dienst an allen. Die Große Fastenzeit ruft uns dazu auf, jetzt zu handeln – für eine Welt, in der Gerechtigkeit und Frieden nicht nur Worte sind, sondern Wirklichkeit.