Die Ungerechtigkeit schreit zum Himmel!
Nach dem asero-türkischen Angriff und den 44-tägigen Krieg in Artsakh (Berg Karabach) habe ich jegliche Hoffnung verloren, dass Vernunft und Gerechtigkeit auf dieser Welt noch wiederherstellbar sind. Jeder versucht Verantwortung von sich zu weisen. Somit trägt jeder auch Verantwortung für das, was heute in Armenien geschieht. Ob Großmächte, ob einzelne Politiker, ob Medien, ob Bürger. Und zwar egal aus welcher Nationalität, Volksgruppe, Glaubensrichtung, Sozialschicht. Derjenige, der ganz oben sitzt, darf da oben sitzen bleiben, solange es dem, der da unten ist, es nicht stört…
„In der Politik passiert nichts zufällig. Wenn etwas passiert, können Sie wetten, dass es so geplant wurde.“ – sagte 1935 Franklin Delano Roosevelt. Ich bin ausdrücklich kein Politiker und deshalb vertraue ich dem, was jemand wie Roosvelt sagt. Die Frage ist: wer ist derjenige, oder wer sind diejenigen, die es planen.
Inwiefern bin ich für Ungerechtigkeit verantwortlich?
Es ist nämlich sehr leicht zu sagen: es sei schon so geplant gewesen. Was kann ich denn gegen Ungerechtigkeit auf dieser Welt tun? Ist es nicht so, dass bestimmte Institutionen und politische Akteure, Großmächte, letztendlich, dafür sorgen sollten, dass Gerechtigkeit herrscht? Ich trage nur dafür Verantwortung, was meine Sache ist: Kinder, Familie, Arbeit.
„Wir leben global betrachtet in einer Welt, in der wir diese Entlastungsfunktion von Institutionen kaum haben. Da muss ich die Rolle des Pflichtträgers von Gerechtigkeit selbst übernehmen – im Rahmen meiner Möglichkeiten und Machtbefugnisse.“ – sagt der Philosoph Henning Hahn. Und da bin ich mit ihm völlig einverstanden.
Dabei muss ich gar nicht so weit auf die Geschichte zurückblicken um die Verlogenheit der Politik zu sehen. Seit hundert Jahren ist das Armenische Volk Opfer des Völkermordes. Seit hundert Jahren haben wir trotz unserem Schrei nicht außer einiger tröstenden Worte und einiger Resolutionen erreicht. Warum? Hätten wir da unrecht? Nein. Gewiss nicht. Weil es keine Gerechtigkeit gibt und weil wirtschaftliche Interessen wichtiger sind als Moral und Gerechtigkeit. Würde man anders denken und den Völkermord an den Armeniern verhindern, würde auch kein Holocaust stattfinden und keine weiteren Völkermorde. Doch es ist wirtschaftlich nicht lukrativ für die Gerechtigkeit gerade zu stehen.
Parolen, die missbraucht werden…
Parolen wie Menschenrechte, Völkerverständigung, Gerechtigkeit, Meinungsfreiheit, Transparenz u. a. werden in schlimmster Art heute wie gestern missbraucht und vergewaltigt. So kannst Du von deiner angeblichen „Meinungsfreiheit“ nur so lange gebraucht machen, bis es Mainstreamkonform, oder bis jemand kommt, der mehr Geld, Macht oder Öl und andere Ressourcen hat, und auf höchstem Niveau sicherstellt, dass deine Meinung nicht im Rahmen der „Meinungsfreiheit“ verstanden wird, sondern als „Verletzung“. Korrupte Medien und Politiker helfen da gerne weiter. Siehe z.B. die Kaviar-Diplomatie, die ihren Einfluss auch bis ins Baden-Württemberg weiterspielen lässt.
Das Recht der in Artsakh (Berg Karabach) lebenden Armenier, das sog „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ wurde mit Füssen getreten. Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verletzung der territorialen Integrität der R. Armenien, nehmen bis heute kein Ende. Lügen und Korruption der seit Jahrzehnten in Armenien Regierenden, Provokationen und Unfähigkeit in Krisensituationen richtig zu handeln der neuen Regierung, die allgemeine Gleichgültigkeit der sog. „Weltgemeinschaft“, die in mehrere kleine Teile zersplitterte armenische Diaspora, die Machtspiele zwischen Ankara und Moskau, Desinteresse der USA, ein schwaches und handlungsunfähiges Europa und selbstverständlich wirtschaftliche Interessen vieler Länder, haben das Leid meines Volkes erneut unsichtbar gemacht, genauso wie vor hundert Jahren, als ob nichts geschehen ist, als ob Gerechtigkeit bereits wiederhergestellt ist․
Sind wir Komplize des Bösen?
Wir werden zu Komplizen derer, die Ungerechtigkeit und Leid verbreiten, wenn wir weiter schweigen und so tun, als ob alles in Ordnung ist. Nach dem Motto: „solange mit mir alles in Ordnung ist, ist die Welt in Ordnung“. In der heutigen globalen und vernetzten Welt, trotz Propaganda und Fake News, wissen wir aber ganz genau, was geschieht. Zu wissen und nichts zu tun, ist eine Mittäterschaft oder zumindest unterlassene Hilfeleistung. Wir haben alle die moralische Verpflichtung unsere Stimme für Gerechtigkeit zu erheben und nicht tatenlos zu sitzen und wegzuschauen. Unser Handeln zeigt, ob wir Mittäter an den Missetaten dieser Welt sind oder nicht. Egal ob Umwelt, Klimawandel, Migrationskrise, Regenwaldabholzung, Corona-Krise, Berg-Karabach-Konflikt oder andere Missstände – all das sind Dinge, an denen wir beteiligt sind, auch wenn sie nicht nur in unserer Nähe geschehen.
Die Ungerechtigkeit schreit zum Himmel!
Die Ungerechtigkeit schreit zum Himmel und sie bereitet uns allen auch persönliche schmerzen. Deshalb müssen wir uns von unserer Komfort Zone, unserer Bequemlichkeit herausjagen und uns tatkräftig für die Wiedererstellung der Gerechtigkeit einsetzen. Denken Sie nicht, dass Sie nichts tun können. Wir alle befinden uns in einer Machtposition, auch wenn man uns es absprechen will. Wir können vieles bewegen und zum Guten ändern. Dafür brauchen wir eine starke Gemeinschaft.
Werden Sie Kinder des Lichtes.
Solidarisch zu sein mit denen, die Unrecht erleiden, die schwach und alleingelassen sind, die keine Fürsprecher haben, ist eine Aufgabe, die jeder, der seine Menschlichkeit nicht ganz verloren hat zu beherzigen soll. Handeln Sie besonnen und werden Sie nicht zum Mittäter des Bösen, sondern werden Sie zu Kindern des Lichtes.
Pfr. Dr. Diradur Sardaryan