Von der Schöpfung zur Auferstehung:
Die sieben letzten Worte Jesu am Kreuz –
Die Liebe bis zum Ende
5. Woche, Dienstag (1. April 2025):
Biblische Lesung für den Tag:
Lukas 23:33-46; Psalm 22:2-6; Jesaja 53:7-12
Das Testament vom Kreuz
„Als sie an den Ort kamen, der Schädelhöhe heißt, kreuzigten sie ihn dort und die Verbrecher, den einen rechts von ihm, den andern links.“ (Lk 23,33)
Nachdem wir gestern das Geheimnis der Fußwaschung betrachtet haben, wenden wir uns heute den sieben letzten Worten Jesu am Kreuz zu. Diese Worte bilden gleichsam das spirituelle Testament des sterbenden Christus – eine letzte Unterweisung, die in ihrer Kürze die ganze Tiefe des Evangeliums enthält. Vom Kreuz herab, an der Grenze zwischen Leben und Tod, zwischen Himmel und Erde, spricht Jesus Worte, die die Jahrhunderte überdauert haben und noch heute das Herz des Gläubigen berühren.
Die Tradition, die sieben letzten Worte Jesu als eigenständige Andachtsform zu betrachten, hat ihren Ursprung im Westen, besonders in der Frömmigkeit des Mittelalters. In der byzantinischen und armenischen Tradition steht eher die Gesamtheit des Passionsgeschehens im Mittelpunkt der liturgischen Feier, besonders in den tiefen und bewegenden Riten der Karwoche. Dennoch bietet diese Betrachtung der sieben Worte auch aus armenisch-orthodoxer Perspektive einen wertvollen Zugang zum Mysterium des Kreuzes.
In der armenischen Tradition wird das Kreuz nicht nur als Instrument des Todes, sondern als khach kenats – „Kreuz des Lebens“ – verstanden. Die kunstvoll gestalteten Kreuzsteine (khachkar) zeugen von dieser Theologie: Das Kreuz ist umgeben von Lebenszeichen, Weinranken und Ewigkeitssymbolen. Es ist nicht nur Zeichen des Todes, sondern Baum des Lebens, der inmitten der Welt aufgerichtet ist.
Die sieben Worte Jesu am Kreuz enthüllen dieses Paradox: Im Moment des tiefsten Leidens offenbart Christus die höchste Liebe. Im Augenblick äußerster Schwäche zeigt er seine göttliche Macht. Während sein Leib durchbohrt wird, heilt er die Wunden der Menschheit.
Die sieben Worte als Offenbarung der göttlichen Liebe
Aus den vier Evangelien können wir sieben letzte Worte Jesu am Kreuz entnehmen. Jedes dieser Worte offenbart einen Aspekt der göttlichen Liebe und führt uns tiefer in das Mysterium des Kreuzes ein:
1. „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Lk 23,34)
Das erste Wort ist ein Gebet – ein Gebet für jene, die Jesus kreuzigen. Anstatt seine Peiniger zu verfluchen oder göttliche Rache auf sie herabzurufen, bittet Jesus um Vergebung für sie. Diese Bitte offenbart die unermessliche Barmherzigkeit Gottes, die selbst angesichts der schlimmsten Sünde nicht erschöpft wird.
Die Wendung „sie wissen nicht, was sie tun“ ist bemerkenswert. Jesus erkennt die Unwissenheit als mildernden Umstand an. Die Soldaten, die ihn kreuzigen, die religiösen Führer, die ihn verurteilen, und die Menge, die seinen Tod fordert – sie alle handeln aus einer gewissen Blindheit heraus. Sie erkennen nicht die wahre Identität dessen, den sie kreuzigen.
Der heilige Basilius der Große (ca. 330-379) kommentiert: „Unwissenheit ist der Same der Sünde“. Dies bedeutet nicht, dass die Kreuziger ohne Schuld wären, sondern dass ihre Schuld durch Unwissenheit gemildert wird. In der Tiefe ihrer Finsternis wissen sie nicht, dass sie das Licht der Welt auslöschen wollen.
In der armenischen Tradition findet diese Bitte Jesu einen Widerhall in den Gebeten des heiligen Gregor von Narek (951-1003). In seinem „Buch der Klagen“ (Matean Voghbergutean) beschreibt er Christus als den, der nicht nur für unsere Sünden leidet, sondern auch für unsere Blindheit Fürsprache einlegt: „Du bist das Licht, das die Blindheit heilt; du bist die Stimme, die für die Sünder bittet.“
2. „Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.“ (Lk 23,43)
Das zweite Wort ist eine Verheißung an den reuigen Schächer. Dieser Verbrecher, der neben Jesus am Kreuz hängt, erkennt in letzter Minute die Wahrheit und bittet: „Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst!“ (Lk 23,42) Die Antwort Jesu übersteigt alle Erwartungen: Nicht irgendwann in ferner Zukunft, sondern „heute noch“ wird der Schächer mit Jesus im Paradies sein.
Diese Verheißung offenbart die unbegreifliche Gnade Gottes, die nicht auf menschliche Leistung oder moralische Perfektion wartet. Der Schächer hat keine Zeit mehr für gute Werke, für Buße oder Wiedergutmachung. Alles, was er hat, ist sein Glaube an Christus und sein Bekenntnis der eigenen Schuld – und das genügt.
In der armenischen Theologie ist diese Szene besonders bedeutsam. Der Katholikos Nerses IV. Shnorhali (1102-1173) sieht in dem reuigen Schächer ein Urbild der Kirche – jener Gemeinschaft, die ihre Sündhaftigkeit bekennt und allein auf die Gnade Christi vertraut. In seinen hymnischen Dichtungen preist er Christus als den, der das verschlossene Paradies wieder öffnet und die Menschheit heimführt.
Die Verheißung „heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“ enthält auch eine wichtige eschatologische Dimension. Sie zeigt, dass die Gemeinschaft mit Christus nicht erst am Ende der Zeiten beginnt, sondern unmittelbar nach dem Tod. Der Kirchenvater Johannes Chrysostomos (ca. 349-407) sieht darin einen Beweis für die Unsterblichkeit der Seele und ihre sofortige Gemeinschaft mit Christus nach dem Tod des Leibes.
3. „Frau, siehe, dein Sohn! … Siehe, deine Mutter!“ (Joh 19,26-27)
Das dritte Wort offenbart Jesu sorgende Liebe für seine Mutter und den geliebten Jünger. Selbst in seiner Todesqual vergisst Jesus nicht die zwischenmenschlichen Beziehungen und Verpflichtungen. Er stiftet eine neue Form der Gemeinschaft – eine Gemeinschaft, die nicht auf Blutsverwandtschaft, sondern auf der gemeinsamen Beziehung zu ihm basiert.
Die Kirchenväter sehen in dieser Szene mehr als einen Akt der Fürsorge. Sie erkennen darin die Geburt der Kirche – jener neuen Familie Gottes, die unter dem Kreuz entsteht. Maria wird zur Mutter aller Gläubigen, und der geliebte Jünger repräsentiert alle, die Christus nachfolgen.
In der armenischen Frömmigkeit hat die Verehrung Marias als geistliche Mutter eine tiefe Tradition. Der armenische Theologe und Hymnendichter Komitas Vardapet (ca. 1869-1935) hat wunderschöne Marienlieder komponiert, die diese spirituelle Mutterschaft betonen. Sie ist die Astvatsatsin (Gottesgebärerin), aber auch die Mutter aller Gläubigen, besonders der Leidenden und Verfolgten.
4. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46; Mk 15,34)
Das vierte Wort ist ein Zitat aus Psalm 22 – ein Schrei der Verlassenheit, aber auch ein Gebet. Jesus, der in tiefster Einheit mit dem Vater lebte, erfährt nun eine Trennung, die für uns unvorstellbar ist. Er trägt die Sünde der Welt und erlebt deren Konsequenz: die Gottesferne.
Diese Verlassenheit hat eine stellvertretende Dimension. Jesus nimmt die Entfremdung auf sich, die die Sünde zwischen Gott und Mensch verursacht hat. Er steigt hinab in die tiefste Tiefe menschlicher Existenz – die Erfahrung der Gottferne – damit wir nie mehr ohne Gott sein müssen.
Der Kirchenvater Athanasius (ca. 298-373) betont in seinem Werk „Über die Menschwerdung des Wortes“, dass Christus alle Aspekte der menschlichen Existenz annehmen musste, um sie zu erlösen – sogar die Erfahrung der Gottverlassenheit. Nur das, was angenommen ist, kann auch geheilt werden.
In der armenischen Karfreitagsliturgie wird dieser Moment besonders eindrücklich vergegenwärtigt. Die Verdunkelung der Kirche symbolisiert die Finsternis, die über das Land kam, und der Schrei der Verlassenheit wird in bewegenden Gesängen meditiert. Doch die Tradition betont auch, dass dieser Schrei nicht das letzte Wort ist – dass der Psalm 22, aus dem Jesus zitiert, mit Worten des Vertrauens und des Sieges endet.
5. „Mich dürstet.“ (Joh 19,28)
Das fünfte Wort ist der einzige direkte Ausdruck körperlichen Leidens unter den sieben letzten Worten. Der Schöpfer aller Wasserquellen leidet Durst – ein Zeichen der vollkommenen Menschlichkeit Jesu und der Realität seines Leidens.
Doch dieser Durst hat auch eine tiefere, symbolische Bedeutung. Er spiegelt den Durst Jesu nach der Erfüllung des göttlichen Heilsplans wider – seinen Durst nach der Rettung der Menschheit. Der Evangelist Johannes betont: „Da Jesus wusste, dass nun alles vollbracht war, sagte er, damit sich die Schrift erfüllte: Mich dürstet.“ (Joh 19,28)
In der mystischen Tradition wird dieser Durst Christi auch auf seine Sehnsucht nach der Liebe der Menschen bezogen. Die heilige Teresa von Kalkutta (1910-1997) machte dieses Wort zum Zentrum ihrer Spiritualität. Für sie drückt es Jesu fortdauernden Durst nach unserer Liebe und unseren Dienst an den Ärmsten aus.
In der armenischen Fastentradition ist das Fasten nicht nur eine körperliche Übung, sondern eine Teilhabe am Durst Christi – ein Ausdruck unserer eigenen Sehnsucht nach Gott und seiner Gerechtigkeit. Das physische Dürsten wird zum Symbol des geistlichen Verlangens nach Gott, wie es der Psalmist ausdrückt: „Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser, so lechzt meine Seele, Gott, nach dir.“ (Ps 42,2)
6. „Es ist vollbracht.“ (Joh 19,30)
Das sechste Wort ist ein Ausruf des Sieges, nicht der Niederlage. Das griechische Wort tetelestai bedeutet „Es ist erfüllt“ oder „Es ist vollendet“ und wurde im antiken Handel verwendet, um anzuzeigen, dass eine Schuld vollständig bezahlt war.
Jesus erklärt damit, dass seine Mission erfüllt ist – der Heilsplan Gottes ist vollbracht, die Erlösung der Menschheit ist gesichert. Dieses Wort zeigt, dass der Tod Jesu nicht ein tragisches Scheitern, sondern die Vollendung seines Auftrags ist.
Die Kirchenväter sehen in diesem Ausruf die Bestätigung, dass Christus freiwillig und bewusst sein Leben hingegeben hat. Der heilige Cyrill von Alexandrien (ca. 376-444) betont, dass Jesus nicht als Opfer der Umstände starb, sondern als souveräner Herr, der seinen Tod als Akt der Liebe vollzog.
In der armenischen Tradition wird das Kreuz entsprechend nicht nur als Zeichen des Leidens, sondern auch des Triumphes verstanden. Der Khachkar (Kreuzstein) symbolisiert nicht nur den Tod, sondern die Lebenskraft des Kreuzes – ein Siegeszeichen, an dem der Tod besiegt wurde. Die armenische Liturgie feiert diesen Sieg in der Karwoche mit den Worten: „Durch sein Kreuz hat Christus den Tod besiegt und uns das Leben geschenkt.“
7. „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.“ (Lk 23,46)
Das siebte und letzte Wort ist ein Gebet vollkommenen Vertrauens. Jesus zitiert Psalm 31,6 – einen Vers, den fromme Juden als Nachtgebet sprachen. Nach der Erfahrung tiefster Verlassenheit kehrt Jesus zum vertrauensvollen Dialog mit dem Vater zurück.
Dieses Wort zeigt, dass Jesus nicht in Verzweiflung oder Bitterkeit stirbt, sondern in vollkommener Hingabe. Er übergibt sein Leben bewusst in die Hände des Vaters, in der Gewissheit, dass der Tod nicht das Ende ist.
Der Kirchenvater Athanasius sieht in diesem Vertrauensakt ein Vorbild für jeden Christen. Der Tod ist nicht mehr zu fürchten, denn Christus hat ihn in einen Akt der Hingabe an Gott verwandelt. Wie Jesus können auch wir unser Leben und Sterben in die Hände des Vaters legen.
In der armenischen Auferstehungshoffnung wird dieses letzte Wort Christi besonders betont. Es ist ein Ruf der Heimkehr zum Vater – eine Einladung an alle Gläubigen, diesem Weg zu folgen. Die Osterliturgie der Armenischen Kirche feiert diese Heimkehr in strahlenden Gesängen, die den Sieg des Lebens über den Tod verkünden.
Die sieben Worte als Spiegelung des geistlichen Weges
Die sieben Worte Jesu am Kreuz können auch als Stationen des geistlichen Weges verstanden werden – als Spiegelung der Erfahrungen, die jeder Christ auf seinem Weg der Nachfolge macht:
1. Der Weg beginnt mit der Vergebung
„Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Ohne die Erfahrung der Vergebung gibt es keinen geistlichen Weg. Wir müssen sowohl Vergebung empfangen als auch gewähren. Dies ist die Grundlage des neuen Lebens in Christus.
Der heilige Kyrill von Jerusalem (ca. 313-386) lehrt in seinen Katechesen, dass die Taufe der Anfang dieses Weges der Vergebung ist – ein Bad der Wiedergeburt, in dem alle Sünden abgewaschen werden. Doch die Vergebung muss im täglichen Leben fortgesetzt werden, indem wir anderen vergeben, wie Christus uns vergeben hat.
2. Der Weg führt zur Gemeinschaft mit Christus
„Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.“ Das Ziel des geistlichen Lebens ist nicht moralische Perfektion, sondern die Gemeinschaft mit Christus. Diese Gemeinschaft beginnt hier und jetzt und vollendet sich in der ewigen Anschauung Gottes.
Die armenische mystische Tradition, wie sie im Werk des Gregor von Narek zum Ausdruck kommt, betont diese direkte Gemeinschaft mit Christus als Kern des geistlichen Lebens. Das „Buch der Klagen“ ist ein fortlaufender Dialog mit Gott, in dem die Seele trotz ihrer Unwürdigkeit die Nähe des göttlichen Du sucht.
3. Der Weg schafft neue Gemeinschaft
„Frau, siehe, dein Sohn! … Siehe, deine Mutter!“ Der geistliche Weg ist nie rein individuell, sondern führt in die Gemeinschaft der Kirche – in eine neue Familie, die unter dem Kreuz geboren wird.
In der armenischen Tradition hat dieses gemeinschaftliche Verständnis des geistlichen Lebens eine besondere Bedeutung. Die Kirche ist nicht nur eine Institution, sondern eine Familie – eine Gemeinschaft, die besonders in Zeiten der Verfolgung und des Leidens zusammenhält. Die Armenische Kirche hat diese Erfahrung der Solidarität durch Jahrhunderte der Unterdrückung bewahrt und weitergegeben.
4. Der Weg führt durch Dunkelheit und Zweifel
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Auf dem geistlichen Weg gibt es Zeiten der Dunkelheit und des Zweifels – Momente, in denen Gott fern scheint und der Glaube auf die Probe gestellt wird.
Der heilige Johannes vom Kreuz (1542-1591) spricht von der „dunklen Nacht der Seele“ als notwendiger Etappe auf dem Weg zu Gott. Diese Erfahrung der Gottesferne ist nicht ein Zeichen des Scheiterns, sondern ein Zeichen der Reifung – ein Prozess, in dem der Glaube geläutert und vertieft wird.
5. Der Weg weckt eine tiefe Sehnsucht nach Gott
„Mich dürstet.“ Der geistliche Weg ist geprägt von einer wachsenden Sehnsucht nach Gott – einem heiligen Durst, der nur durch die Gemeinschaft mit dem Lebendigen gestillt werden kann.
Der armenische Theologe und Hymnendichter Nerses Shnorhali drückt diese Sehnsucht in seinen Gebeten aus: „Mit Verlangen habe ich nach dir verlangt, o Christus, Quelle des Lebens“. Diese Sehnsucht ist nicht eine Form des Mangels, sondern ein Zeichen der Liebe, die immer tiefer und vollkommener werden will.
6. Der Weg führt zur Vollendung
„Es ist vollbracht.“ Das geistliche Leben zielt auf die Vollendung des göttlichen Bildes im Menschen – auf jene Transformation, die der heilige Paulus so beschreibt: „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“ (Gal 2,20).
Die ostkirchliche Tradition spricht von theosis (Vergöttlichung) als dem Ziel des geistlichen Lebens – nicht einer Aufhebung des Menschseins, sondern seiner Vollendung in der Gemeinschaft mit Gott. Die armenische Spiritualität kennt dieses Konzept in ihrer eigenen Form und Ausprägung.
7. Der Weg endet in der völligen Hingabe an Gott
„Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.“ Das geistliche Leben vollendet sich in der vollkommenen Hingabe an Gott – in einem Akt des Vertrauens, der das ganze Leben und Sterben in die Hände des Vaters legt.
Der armenische Theologe Khrimian Hayrik (1820-1907) beschreibt diese Hingabe als „die Freiheit der Kinder Gottes“ – eine Freiheit, die nicht in der Selbstbehauptung, sondern in der liebenden Übereignung an Gott besteht.
Die Offenbarung der höchsten Liebe
Die sieben letzten Worte Jesu am Kreuz offenbaren ein Verständnis von Liebe, das die gängigen philosophischen Konzeptionen übersteigt und herausfordert:
1. Die Überwindung des Ressentiments (Nietzsche)
Der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche (1844-1900) kritisierte das Christentum als Religion des Ressentiments – als eine Moral der Schwachen, die aus Machtlosigkeit Demut und Vergebung predigen. Doch die Worte Jesu am Kreuz widerlegen diese Interpretation. Seine Vergebung entspringt nicht der Schwäche, sondern einer Stärke, die auf Vergeltung verzichten kann. Es ist die freie Entscheidung dessen, der die Macht hätte, „zwölf Legionen Engel“ zu seiner Verteidigung zu rufen (Mt 26,53), aber darauf verzichtet.
2. Das Antlitz des Anderen (Levinas)
Der jüdische Philosoph Emmanuel Levinas (1906-1995) entwickelt eine Ethik, die auf der Begegnung mit dem „Antlitz des Anderen“ basiert. In dieser Begegnung erfährt der Mensch einen unbedingten ethischen Anspruch, der vor jeder bewussten Entscheidung liegt.
Die Worte Jesu am Kreuz illustrieren diese Ethik der unbedingten Verantwortung: Selbst in seinem äußersten Leiden vergisst Jesus nicht den Anderen – sei es die Mutter, der geliebte Jünger oder der reuige Schächer. Seine Liebe bleibt auf den Anderen gerichtet, auch wenn er selbst zum Opfer geworden ist.
3. Die Kenosis als Weg zur Fülle (Bulgakov)
Der russische Theologe Sergei Bulgakov (1871-1944) entwickelt in seiner Christologie das Konzept der Kenosis (Selbstentäußerung) als Schlüssel zum Verständnis der göttlichen Liebe. Gott offenbart sich nicht in überlegener Macht, sondern in freiwilliger Schwäche – in der Bereitschaft, auf Macht zu verzichten, um in Liebe bei den Geschöpfen zu sein.
Die sieben Worte am Kreuz sind der höchste Ausdruck dieser kenotischen Liebe. Jesus verzichtet auf alle göttlichen Privilegien und teilt die tiefste menschliche Erfahrung – die Erfahrung des Leidens und des Todes. Doch gerade in dieser äußersten Entäußerung offenbart er die Fülle göttlicher Liebe.
4. Die Wahrheit des Leidens (Dostojewski)
Der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewski (1821-1881) ringt in seinen Werken mit der Frage des Leidens und seiner Bedeutung. In seinem Roman „Die Brüder Karamasow“ lässt er Iwan die radikale Frage stellen, ob irgendein zukünftiges Glück das unschuldige Leiden eines Kindes rechtfertigen könne.
Die Antwort findet sich nicht in abstrakten Theorien, sondern in der Person des leidenden Christus. Der Staretz Sosima im Roman sagt: „Die Liebe ist ein hartes und furchtbares Ding.“ Sie kostet etwas – sie erfordert Opfer und Leiden. In Christus wird Gott selbst zum Teilhaber am menschlichen Leiden und transformiert es von innen her.
Die sieben Worte Jesu am Kreuz sind keine theoretische Antwort auf das Problem des Leidens, aber sie zeigen einen Gott, der mit uns leidet und uns in unserem Leiden nicht allein lässt.
Praktische Übungen für die Fastenzeit
Die Betrachtung der sieben letzten Worte Jesu am Kreuz lädt uns ein, tiefer in das Mysterium des Kreuzes einzudringen und es in unserem Leben Wirklichkeit werden zu lassen. Hier sind einige praktische Übungen für diese Woche der Fastenzeit:
1. Meditation über die sieben Worte
Nimm dir jeden Tag Zeit, eines der sieben letzten Worte Jesu zu meditieren. Lies den entsprechenden Bibeltext, verweile in Stille und lass die Worte in dein Herz sinken. Frage dich: Was sagt mir dieses Wort heute? Wie spricht es in meine konkrete Lebenssituation?
Diese Meditation kann durch Ikonen oder Kreuze unterstützt werden, die dir helfen, dich auf die Gegenwart Christi zu konzentrieren.
2. Die Praxis der Vergebung
Das erste Wort Jesu am Kreuz ist ein Gebet der Vergebung. Nimm dir in dieser Woche bewusst Zeit, um zu vergeben – sei es im stillen Gebet oder in der direkten Begegnung. Gibt es Menschen, denen du noch nicht vollständig vergeben hast? Gibt es Situationen, in denen du selbst um Vergebung bitten solltest?
Die armenische Tradition kennt das Ritual der gegenseitigen Vergebung vor Beginn der Fastenzeit. Diese Praxis kann auch im persönlichen Leben zu jeder Zeit gepflegt werden.
3. Der bewusste Umgang mit Leid
Die Worte Jesu am Kreuz zeigen, wie er mit dem Leiden umgegangen ist – nicht in Bitterkeit und Verzweiflung, sondern in Vertrauen und Hingabe. Wenn du in dieser Woche Leid erfährst – sei es körperlich, emotional oder geistlich –, versuche, es bewusst mit dem Leiden Christi zu verbinden.
Dies bedeutet nicht, das Leiden zu verherrlichen, sondern ihm im Licht des Kreuzes einen tieferen Sinn zu geben. Der armenische Theologe Gregor von Narek schreibt in seinem „Buch der Klagen“: „Im Leiden ist ein Same der Auferstehung verborgen.“
4. Das Gebet der völligen Hingabe
Das letzte Wort Jesu am Kreuz ist ein Gebet der vollkommenen Hingabe an den Vater. Übe dich in dieser Woche in einem ähnlichen Gebet der Hingabe. Du könntest beispielsweise jeden Abend vor dem Einschlafen beten: „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist, mein Leben, meine Sorgen, meine Hoffnungen.“
Diese Übung der Hingabe ist nicht eine Flucht vor der Verantwortung, sondern ein Akt des Vertrauens, der uns von unnötigen Sorgen befreit und uns öffnet für das Wirken Gottes in unserem Leben.
Gebet vor dem Kreuz
Herr Jesus Christus,
der du am Kreuz dein Leben für uns hingegeben
und in sieben Worten dein Herz offenbart hast,
lass mich tiefer in das Geheimnis deiner Liebe eindringen.
Lehre mich zu vergeben, wie du vergeben hast –
selbst jenen, die mich verletzen oder missverstehen.
Schenke mir ein Herz, das andere nicht verurteilt,
sondern für sie betet und ihnen Gutes wünscht.
Lass mich wie der reuige Schächer erkennen,
dass deine Gnade größer ist als meine Sünde.
Hilf mir, in deiner Verheißung zu leben:
„Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.“
Gib mir ein fürsorgliches Herz für jene,
die mir anvertraut sind, wie du für Maria und Johannes gesorgt hast.
Hilf mir, neue Gemeinschaft zu stiften,
die nicht auf Blutsbanden, sondern auf geistlicher Verbundenheit beruht.
In Zeiten der Dunkelheit und des Zweifels,
wenn ich rufe: „Warum hast du mich verlassen?“,
lass mich nicht verzweifeln, sondern vertrauen,
dass du selbst durch diese Erfahrung gegangen bist.
Wecke in mir einen heiligen Durst nach dir,
eine Sehnsucht, die tiefer ist als alle irdischen Verlangen.
Lass mich dürstend sein nach Gerechtigkeit und Liebe,
nach der lebendigen Quelle, die du selbst bist.
Gib mir die Gnade, meinen Auftrag zu vollenden,
wie du ihn vollendet hast am Kreuz.
Lass mich treu sein in den kleinen und großen Aufgaben,
die du mir anvertraut hast.
Schließlich lehre mich jene vollkommene Hingabe,
mit der du dein Leben in die Hände des Vaters gelegt hast.
Lass mich in Freiheit und Vertrauen beten:
„Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.“
Amen.
Die Vollendung der Liebe
Die sieben letzten Worte Jesu am Kreuz offenbaren die Vollendung jener Liebe, die er während seines gesamten irdischen Wirkens verkündet und gelebt hat. Der Evangelist Johannes leitet den Bericht von der Kreuzigung mit den Worten ein: „Da er die Seinen liebte, die in der Welt waren, liebte er sie bis zur Vollendung“ (Joh 13,1). Diese Vollendung (telos) zeigt sich in jedem der sieben Worte.
In der armenischen theologischen Tradition wird das Kreuz als der wahre trōn (Thron) Christi verstanden. Nicht auf einem goldenen Thron, umgeben von Macht und Glanz, sondern am Kreuz offenbart Christus seine wahre Herrlichkeit – die Herrlichkeit der sich selbst hingebenden Liebe. Die armenischen Hymnen des Karfreitags besingen diese paradoxe Herrlichkeit: „Das Holz des Fluches wurde zum Baum des Lebens, das Instrument der Schande wurde zum Thron der Herrlichkeit.“
Die sieben Worte Jesu am Kreuz bilden ein spirituelles Testament, das tief in die Identität der Kirche eingeschrieben ist. Sie zeigen, dass die christliche Existenz nicht vom Kreuz wegführt, sondern hin zum Kreuz – nicht als Ort des Todes, sondern als Ort der höchsten Liebe und des wahren Lebens.
In dieser fünften Woche der Fastenzeit, während wir uns auf die Karwoche vorbereiten, sind wir eingeladen, unter dem Kreuz zu stehen und auf die sieben Worte zu hören. Sie sind nicht nur historische Überlieferung, sondern lebendige Worte, die auch heute zu uns gesprochen werden. Sie laden uns ein, jenen Weg der Liebe zu gehen, den Christus selbst gegangen ist – einen Weg, der durch Leiden und Tod hindurchführt zur Auferstehung und zum Leben.
Pfr. Dr. Diradur Sardaryan