Von der Schöpfung zur Auferstehung:

Der Einzug in Jerusalem –
Der wahre König kommt in Demut

6. Woche, Montag (7. April 2025):

Biblische Lesung für den Tag:
Johannes 12,12-19; Sacharja 9,9-10; Psalm 118, 25-29

Das königliche Paradox

„Am folgenden Tag hörte die große Menschenmenge, die zum Fest gekommen war, Jesus komme nach Jerusalem. Da nahmen sie Palmzweige, zogen hinaus, um ihn zu empfangen, und riefen: Hosanna! Gesegnet sei, der kommt im Namen des Herrn, der König Israels!“ (Joh 12,12-13)

Mit dem Beginn der sechsten Fastenwoche treten wir in den Vorhof der Karwoche ein. Nach der intensiven spirituellen Reise der vergangenen Wochen stehen wir nun vor dem Ereignis, das in der armenischen Liturgie als Zaghgazart (Palmsonntag) feierlich begangen wird – dem Einzug Jesu in Jerusalem. Dieses Ereignis markiert nicht nur den Beginn der Passionswoche, sondern enthüllt auch das zentrale Paradox des Evangeliums: Gottes Herrlichkeit offenbart sich nicht in weltlicher Macht, sondern in der Demut der Liebe.

Der Einzug Jesu in Jerusalem ist eine dramatische Inszenierung, die bewusst die prophetische Verheißung des Sacharja aufgreift: „Juble laut, Tochter Zion! Jauchze, Tochter Jerusalem! Siehe, dein König kommt zu dir. Gerecht ist er und Rettung wurde ihm zuteil, demütig ist er und reitet auf einem Esel, auf einem Fohlen, dem Jungen einer Eselin.“ (Sach 9,9) In dieser symbolischen Handlung offenbart Jesus seine messianische Identität, aber auf eine Weise, die alle politischen Erwartungen seiner Zeit unterläuft und transformiert.

In der armenischen liturgischen Tradition wird dieser Tag mit besonderer Festlichkeit begangen. Zweige werden gesegnet, Prozessionen abgehalten und spezielle Hymnen gesungen, die die paradoxe Königswürde Christi feiern. Die Liturgie bewahrt den doppelten Charakter dieses Ereignisses: einerseits die Freude über die Ankunft des Messias, andererseits das Wissen um das bevorstehende Leiden. In den armenischen Hymnen (Šarakans) des Palmsonntags wird Christus als t’agavor (König) gepriesen, aber als einer, dessen Krone aus Dornen bestehen wird.

In dieser letzten Phase unserer Fastenreise sind wir eingeladen, die Natur dieses ungewöhnlichen Königtums tiefer zu verstehen und unsere eigenen Vorstellungen von Macht, Erfolg und Herrlichkeit im Licht des Evangeliums zu überprüfen.


Die Symbolik des Einzugs

Der Einzug Jesu in Jerusalem ist reich an symbolischen Bedeutungen, die sorgfältig den messianischen Erwartungen des Judentums entsprechen und sie gleichzeitig transformieren:

Der Esel als Zeichen königlicher Demut

Die auffälligste symbolische Handlung ist Jesu Wahl eines Esels als Reittier. In der antiken Welt war die Art des Reittieres ein deutliches Statussymbol. Pferde waren mit Krieg und Eroberung assoziiert, während Esel als Arbeitstiere des einfachen Volkes galten. Wenn ein König auf einem Esel ritt, signalisierte dies einen Friedensbesuch, nicht einen kriegerischen Feldzug.

Die bewusste Erfüllung der Prophezeiung des Sacharja (9,9-10) durch Jesus ist ein deutliches Zeichen für die Art seines Königtums: „Gerecht ist er und Rettung wurde ihm zuteil, demütig ist er und reitet auf einem Esel…“ Die Fortsetzung dieser Prophezeiung ist ebenso bedeutsam: „Ich vernichte die Streitwagen aus Efraim und die Rosse aus Jerusalem, vernichtet wird der Kriegsbogen. Er verkündet Frieden den Völkern.“ (Sach 9,10)

In der armenischen theologischen Tradition wird dieser Kontrast zwischen weltlicher und göttlicher Herrschaft besonders betont. Die Kirchenväter reflektieren in ihren Schriften über diese Umkehrung aller weltlichen Maßstäbe: Der wahre König kommt nicht auf einem Kriegsross, sondern auf einem Lasttier; nicht mit einem Schwert, sondern mit einer Botschaft des Friedens; nicht um zu herrschen, sondern um zu dienen.

Die Palmzweige als Zeichen des Sieges

Das Volk begrüßt Jesus mit Palmzweigen – einem Symbole des Sieges und der Freude im antiken Nahen Osten. Diese Geste erinnert an die Siegesfeiern der Makkabäer (vgl. 1 Makk 13,51) und deutet auf die messianische Hoffnung auf die Befreiung Israels.

Doch der Sieg, den Jesus erringen wird, ist anders als erwartet. Es ist kein militärischer Triumph über die römischen Besatzer, sondern ein geistlicher Sieg über Sünde und Tod. Die Palmzweige, die ihn bei seinem Einzug begrüßen, finden ihre wahre Bedeutung im leeren Grab des Ostermorgens.

In der armenischen Liturgie werden am Palmsonntag gesegnete Zweige verteilt, die die Gläubigen in ihre Häuser bringen – als Zeichen des Sieges Christi, der in ihr Leben einzieht. Diese Praxis verbindet den Triumph des Palmsonntags mit dem österlichen Sieg und erinnert daran, dass der Weg zur Herrlichkeit durch das Kreuz führt.

Der Ruf „Hosanna“

Die Menge ruft: „Hosanna! Gesegnet sei, der kommt im Namen des Herrn!“ (Joh 12,13) Das hebräische Wort „Hosanna“ bedeutet ursprünglich „Hilf doch!“ oder „Rette doch!“ und war ein Hilferuf an Gott oder den König. Im Laufe der Zeit entwickelte es sich zu einem liturgischen Jubelruf. Der zweite Teil des Ausrufs ist ein Zitat aus Psalm 118,26, einem Psalm, der bei den großen Wallfahrtsfesten in Jerusalem gesungen wurde.

Diese liturgische Akklamation zeigt, dass das Volk in Jesus den erwarteten Messias sieht, den „Sohn Davids“, der kommen soll, um das Königreich wiederherzustellen. Doch ihre Vorstellung von diesem Königreich ist noch von weltlichen Kategorien geprägt, wie die spätere Enttäuschung und Ablehnung Jesu zeigen wird. Die Menge, die noch vor Tagen „Hosanna“ rief, wird mit der gleichen Eifer „Kreuzige ihn“ rufen.

Der Hosanna-Ruf eine zentrale Bedeutung in den Hymnen des Palmsonntags. Er wird nicht nur als historische Erinnerung verstanden, sondern als gegenwärtiger Ausdruck des Glaubens der Kirche, die den wahren König in ihrer Mitte begrüßt.

Das Ausbreiten der Kleider als Zeichen der Unterwerfung

Die Menschen breiten ihre Kleider auf dem Weg aus, über den Jesus reitet – eine Geste der Ehrerbietung, die an die Königssalbung des Jehu erinnert: „Da nahmen sie schnell ihre Kleider und legten sie unter ihn auf die bloßen Stufen. Sie stießen in das Horn und riefen: Jehu ist König geworden.“ (2 Kön 9,13)

Diese symbolische Handlung zeigt die Bereitschaft, sich dem kommenden König zu unterwerfen, ihm den Weg zu bereiten und ihm die Ehre zu geben, die einem Herrscher gebührt. Es ist ein Akt der Anerkennung seiner Autorität. Die Gläubigen sind eingeladen ihr Leben vor Christus auszubreiten und sich ihm ganz zu überlassen.


Die theologische Tiefe des königlichen Einzugs

Der Einzug Jesu in Jerusalem ist mehr als eine dramatische Inszenierung – er ist eine theologische Offenbarung, die zentrale Aspekte seiner Sendung und Identität enthüllt:

Die kenotische Natur des göttlichen Königtums

Der Einzug auf einem Esel offenbart die kenotische (selbstentäußernde) Natur des göttlichen Königtums. Der Apostel Paulus drückt diese Selbstentäußerung Christi im Philipperhymnus so aus: „Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich.“ (Phil 2,6-7)

Diese Kenosis (Selbstentäußerung) ist kein Verlust der göttlichen Natur, sondern ihre tiefste Offenbarung. Der wahre Gott offenbart sich nicht in überlegener Macht, sondern in dienender Liebe. Der wahre König kommt nicht, um zu herrschen, sondern um zu dienen und sein Leben als Lösegeld hinzugeben für viele (Mk 10,45).

In der armenischen Theologie wird diese kenotische Dimension des göttlichen Handelns besonders betont. Der heilige Gregor von Narek (951-1003) meditiert in seinem „Buch der Klagen“ (Matean Voghbergutean) immer wieder über das Geheimnis der göttlichen Herablassung – über einen Gott, der sich in Christus erniedrigt, um den Menschen zu erhöhen.

Die Umkehrung der messianischen Erwartungen

Der Einzug auf einem Esel stellt eine radikale Umkehrung der vorherrschenden messianischen Erwartungen dar. Viele Juden zur Zeit Jesu erwarteten einen Messias, der die politische Herrschaft Israels wiederherstellen und die römischen Besatzer vertreiben würde. Jesus jedoch verkündet ein Reich, das „nicht von dieser Welt“ ist (Joh 18,36) – ein Reich, das nicht auf militärischer Macht, sondern auf der Herrschaft der Liebe und Gerechtigkeit beruht.

Diese Umkehrung wird in den Worten Jesu deutlich: „Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein.“ (Mk 9,35) Das Reich Gottes, das Jesus verkündet, funktioniert nach anderen Gesetzen als die Reiche dieser Welt. Es ist ein Reich, in dem die Letzten die Ersten sein werden, die Armen selig gepriesen werden und die Gewaltlosen das Land erben. Die Kirche lernt, dass wahre Stärke nicht in äußerer Macht, sondern in innerer Beständigkeit liegt – in der Treue zum Evangelium auch unter widrigsten Umständen.

Die eschatologische Dimension des Einzugs

Der Einzug in Jerusalem hat auch eine deutliche eschatologische Dimension. Er weist voraus auf den endgültigen Triumph des Gottesreiches, wie er in der Offenbarung des Johannes beschrieben wird: „Dann sah ich den Himmel offen, und siehe, ein weißes Pferd, und der, der auf ihm saß, heißt ,Der Treue und Wahrhaftige‘; gerecht richtet er und führt er Krieg.“ (Offb 19,11)

Der demütige Einzug auf dem Esel ist ein Vorspiel zu dieser endgültigen Manifestation der göttlichen Herrschaft. Er zeigt, dass der Weg zur Herrlichkeit durch Demut und Leiden führt – dass das Kreuz dem Thron vorausgeht.

Die Verbindung zwischen dem ersten und dem zweiten Kommen Christi wird in der Theologie der Ostkirche stark betont. Der Palmsonntag weist bereits auf Ostern hin, und Ostern wiederum auf die endgültige Auferstehung und Vollendung. Die liturgischen Texte des Palmsonntags enthalten daher sowohl Elemente der Freude über die Ankunft des Messias als auch Hinweise auf sein bevorstehendes Leiden und seine endgültige Verherrlichung.

Die königliche Identität Jesu als „Sohn Davids“

Der Einzug in Jerusalem ist ein klares Bekenntnis zur königlichen Identität Jesu als „Sohn Davids“ – als legitimer Erbe des davidischen Königshauses und damit als der verheißene Messias. Die Akklamation der Menge – „Hosanna dem Sohn Davids!“ (Mt 21,9) – ist ein explizites Bekenntnis zu dieser Identität.

Doch Jesus interpretiert dieses königliche Erbe neu. Er ist nicht gekommen, um den Thron Davids im politischen Sinne wiederherzustellen, sondern um ein ewiges Reich zu errichten, das nicht auf Macht, sondern auf Gerechtigkeit und Liebe gegründet ist. Sein Königtum ist universal und ewig, wie der Engel der Verkündigung zu Maria sagte: „Seine Herrschaft wird kein Ende haben.“ (Lk 1,33)

Diese christologische Deutung des davidischen Königtums ist tief reflektiert. Die armenischen Hymnen und Gebete betonen, dass Christus der wahre König ist, dessen Herrschaft alle irdischen Reiche überdauert. Diese Einsicht hat die armenische Kirche durch Zeiten der Verfolgung und des Exils getragen und ihr geholfen, ihre Identität auch ohne staatliche Unterstützung zu bewahren.


Die Ambivalenz des Einzugs:
Zwischen Hosanna und Kreuzige ihn!

Eine der erstaunlichsten Aspekte des Einzugs in Jerusalem ist seine tiefe Ambivalenz. Die gleiche Stadt, die Jesus mit Palmzweigen und Hosanna-Rufen empfängt, wird wenige Tage später seinen Tod fordern. Diese dramatische Wende offenbart eine grundlegende Wahrheit über die menschliche Natur und die Natur des Glaubens:

Die Unbeständigkeit menschlicher Begeisterung

Die schnelle Wende von „Hosanna!“ zu „Kreuzige ihn!“ illustriert die Unbeständigkeit menschlicher Begeisterung. Die anfängliche Euphorie über Jesus basierte auf Missverständnissen und falschen Erwartungen. Als Jesus diese Erwartungen nicht erfüllte – als er sich nicht als politischer Befreier erwies, der die römische Herrschaft stürzen würde –, schlug die Begeisterung in Enttäuschung und Wut um.

Diese Unbeständigkeit ist ein Spiegel menschlicher Religiosität, die oft von emotionalen Hochs und Tiefs geprägt ist. Die Fastenzeit lädt uns ein, über diese Oberflächlichkeit hinauszuwachsen und einen Glauben zu entwickeln, der nicht von Gefühlen, sondern von Treue und Hingabe geprägt ist.

Die Kirchenväter reflektieren über diese Unbeständigkeit: „Die gleiche Menge, die ihn mit Zweigen begrüßte, übergab ihn dem Kreuz. Die gleichen Lippen, die ,Hosanna‘ riefen, schrien später: ,Kreuzige ihn!'“ Diese Reflexion ist keine historische Anklage, sondern eine Einladung zur Selbstprüfung: Wie beständig ist unser eigener Glaube angesichts von Enttäuschungen und Herausforderungen?

Der Prüfstein echter Nachfolge

Der Einzug in Jerusalem wird so zum Prüfstein echter Nachfolge. Es ist relativ leicht, Jesus zu folgen, wenn er als triumphierender König erscheint – viel schwieriger ist es, ihm bis zum Kreuz zu folgen, wenn alle ihn verlassen haben.

Der heilige Kyrill von Jerusalem (ca. 313-386) sieht in dieser Prüfung ein wesentliches Element des christlichen Glaubens, denn viele wollen die Krone, aber wenige das Kreuz. Viele wollen den Trost, aber wenige die Trübsal. Viele wollen an seinem Tisch sitzen, aber wenige mit ihm fasten. Die wahre Nachfolge Christi umfasst beides – Palmsonntag und Karfreitag, Freude und Leid, Erhöhung und Erniedrigung.

In der armenischen Tradition wird diese Ganzheitlichkeit der Nachfolge besonders betont. Die Erfahrung von Verfolgung und Martyrium hat die Kirche gelehrt, dass der Weg zu Christus durch das Kreuz führt – dass wahre Jüngerschaft die Bereitschaft einschließt, mit Christus zu leiden, um mit ihm an der Auferstehung teilzunehmen.

Die Ironie der falschen Messiaserwartung

Eine tiefe Ironie liegt in der Tatsache, dass die Menschen Jesus als „König Israels“ akklamieren, aber seine wahre königliche Identität nicht verstehen. Sie erkennen ihn als Messias, aber ihr Messiasbild ist von politischen und nationalistischen Erwartungen geprägt, die dem Wesen seines Königtums widersprechen.

Diese Ironie wird später bei der Kreuzigung besonders deutlich, wenn über seinem Haupt die Inschrift angebracht wird: „Jesus von Nazaret, der König der Juden“ (Joh 19,19). Was als Spott gedacht war, wird zur tiefsten Wahrheit: Gerade am Kreuz erweist sich Jesus als wahrer König – nicht durch Machtdemonstration, sondern durch Selbsthingabe. Mit dem Bild des „verhüllten Königs“ wird die Ironie ausgedrückt – eines Königs, dessen wahre Herrlichkeit nur im Glauben erkannt werden kann, während sie den Augen der Welt verborgen bleibt. Die Spannung zwischen Verhüllung und Offenbarung, zwischen scheinbarer Niederlage und tatsächlichem Sieg, ist ein zentrales Merkmal der christlichen Osterverkündigung.


Das Paradox der göttlichen Macht

Der Einzug Jesu in Jerusalem wirft fundamentale philosophische Fragen über das Wesen der Macht und der wahren Autorität auf:

Die Macht der Ohnmacht

Die französische Philosophin Simone Weil (1909-1943) hat in ihrem Werk tief über das Paradox der göttlichen Macht nachgedacht. Für sie ist die höchste Manifestation göttlicher Macht nicht die Ausübung von Zwang, sondern der freiwillige Verzicht auf Zwang – die Selbstbegrenzung Gottes, die dem Menschen Raum gibt für Freiheit und Liebe.

Diese Einsicht resoniert mit dem Bild Jesu, der auf einem Esel in Jerusalem einzieht. Seine Macht besteht gerade in der Bereitschaft, auf Machtdemonstration zu verzichten. Er kommt nicht mit Legionen von Engeln, sondern in Demut und Verletzlichkeit. Doch gerade in dieser Verletzlichkeit liegt seine wahre Stärke.

Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard (1813-1855) entwickelt einen ähnlichen Gedanken in seiner Reflexion über die „Kenosis“ (Selbstentäußerung) Gottes. Für ihn ist der Gott, der sich in Christus erniedrigt, nicht weniger, sondern mehr göttlich. Die höchste Manifestation der Liebe ist die Bereitschaft, sich selbst zu entäußern um des Geliebten willen.

Die ethische Dimension des Königtums

Emmanuel Levinas (1906-1995) entwickelt eine Ethik, die auf der unbedingten Verantwortung für den Anderen basiert. Für Levinas ist die wahre Autorität nicht die, die befiehlt und fordert, sondern die, die sich in den Dienst des Anderen stellt.

Diese Ethik der Verantwortung findet ihre höchste Verkörperung in Jesus, dem König, der nicht gekommen ist, um zu herrschen, sondern um zu dienen. Sein Einzug auf einem Esel signalisiert eine Umkehrung aller weltlichen Machtvorstellungen – eine neue Form von Autorität, die nicht auf Zwang, sondern auf Liebe beruht.

Das Königtum als Gabe und Aufgabe

Der französische Philosoph Gabriel Marcel (1889-1973) unterscheidet zwischen „Haben“ und „Sein“ – zwischen einem Besitzdenken, das den Anderen zum Objekt macht, und einer Haltung der Offenheit und Hingabe, die den Anderen als Du respektiert.

Diese Unterscheidung erhellt auch das Königtum Christi. Es ist nicht ein Königtum des Habens und Besitzens, sondern ein Königtum des Seins und der Hingabe. Jesus ist König nicht durch das, was er hat oder kontrolliert, sondern durch das, was er ist und gibt.

In der christlichen Tradition wird dieses Verständnis des Königtums als Gabe und Aufgabe in der Liturgie und in den Hymnen des Palmsonntags ausgedrückt. Christus wird als König gefeiert, der seine Herrschaft durch Selbsthingabe ausübt und der die Gläubigen in diese Hingabe einbezieht.


Praktische Übungen für die Fastenzeit

Der Einzug Jesu in Jerusalem lädt uns ein, unser eigenes Verständnis von Macht, Erfolg und Autorität im Licht des Evangeliums zu überprüfen. Hier sind einige konkrete Übungen für diese Woche der Fastenzeit:

1. Die Übung der Hosanna-Bitte

Das Wort „Hosanna“ bedeutet ursprünglich „Hilf doch!“ oder „Rette doch!“. Nimm dir in dieser Woche Zeit, dieses Urgebet des Palmsonntags zu deinem eigenen zu machen. Wo brauchst du die rettende Gegenwart Christi in deinem Leben? Wo brauchst du seine Hilfe und Stärke?

Diese Übung der Hosanna-Bitte ist keine magische Formel, sondern ein Akt des Vertrauens – ein Eingeständnis deiner Bedürftigkeit und ein Ausdruck deines Glaubens an Christus als den, der retten kann.

2. Die Praxis der königlichen Hingabe

Die Menschen breiteten ihre Kleider auf dem Weg aus, über den Jesus ritt – ein Zeichen der Hingabe und Unterwerfung. Überlege in dieser Woche: Was könnte es für dich bedeuten, symbolisch deine Kleider vor Christus auszubreiten? Welche Aspekte deines Lebens – Fähigkeiten, Ressourcen, Zeit – könntest du bewusster in seinen Dienst stellen?

Diese Übung der königlichen Hingabe ist nicht eine Aufgabe der eigenen Verantwortung, sondern eine bewusste Neuausrichtung deines Lebens auf Christus als König und Herrn.

3. Die Reflexion über falsche Messiasbilder

Die Menschen, die Jesus als Messias begrüßten, hatten oft falsche Vorstellungen von seiner Identität und Sendung. Nimm dir Zeit, über deine eigenen Erwartungen an Gott nachzudenken. Gibt es Bereiche, in denen du einen „Messias nach deinem Bild“ erwartest statt den wahren Christus anzunehmen? Wie reagierst du, wenn Gott anders handelt, als du es erwartest oder erhoffst?

Diese Übung der ehrlichen Selbstreflexion kann dir helfen, bewusster zu werden für die subtilen Formen des Götzendienstes, die sich in unser religiöses Leben einschleichen können.

4. Die Praxis der demütigen Autorität

Jesus zeigt am Palmsonntag ein neues Modell von Autorität – eine Autorität, die auf Demut und Dienst beruht. Überlege, wie du in deinen eigenen Verantwortungsbereichen – sei es in der Familie, am Arbeitsplatz oder in der Gemeinschaft – diese Art von dienender Autorität praktizieren könntest.

Diese Übung fordert uns heraus, unsere natürliche Neigung zur Dominanz und Kontrolle zu überwinden und stattdessen eine Haltung des Dienens und der Demut zu entwickeln.


Gebet für den Einzug des wahren Königs

Herr Jesus Christus,
du bist in Jerusalem eingezogen
nicht auf einem Kriegsross, sondern auf einem Esel –
nicht mit den Insignien der Macht, sondern in Demut.
Dein Königtum ist nicht von dieser Welt,
sondern offenbart sich in Liebe und Hingabe.

Zieh ein in mein Leben, König der Sanftmut,
und herrsche über mein Herz durch deine Liebe.
Befreie mich von falschen Vorstellungen deiner Macht
und lehre mich, dich zu erkennen, wie du wirklich bist –
nicht als einen, der herrscht und fordert,
sondern als einen, der liebt und gibt.

Hilf mir, dass ich dir nicht nur „Hosanna“ rufe,
wenn du meinen Erwartungen entsprichst,
sondern dir treu bleibe auf dem Weg zum Kreuz.
Lass mich meine Kleider vor dir ausbreiten –
all das, was ich bin und habe –
als Zeichen meiner Hingabe an dich.

Öffne die Tore meines inneren Jerusalem,
damit du einziehen kannst als rechtmäßiger König.
Und lass mein Leben zu einer Prozession werden,
die dich begleitet und deine Herrlichkeit verkündet –
nicht die vergängliche Herrlichkeit dieser Welt,
sondern die ewige Herrlichkeit deiner Liebe.
Amen.


Der wahre König und sein Reich

Der Einzug Jesu in Jerusalem offenbart die wahre Natur seines Königtums und seines Reiches. Es ist ein Königtum, das alle weltlichen Kategorien transzendiert – ein Reich, das nicht auf Zwang und Gewalt, sondern auf Freiheit und Liebe gegründet ist.

In diesem Königtum sind die Ersten die Letzten und die Letzten die Ersten. Die wahre Autorität liegt nicht bei denen, die herrschen, sondern bei denen, die dienen. Der wahre Reichtum besteht nicht im Besitz von Gütern, sondern in der Fülle des Lebens, die aus der Gemeinschaft mit Gott fließt.

Die armenische Tradition hat dieses Verständnis des Königtums Christi durch Jahrhunderte der Unterdrückung und Verfolgung bewahrt. Gerade in Zeiten, in denen die Kirche keine äußere Macht hatte, wurde ihr bewusst, dass die wahre Stärke im Leiden und in der Treue liegt – in der Nachfolge eines Königs, der seinen Thron am Kreuz fand.

In dieser sechsten Woche der Fastenzeit, während wir uns auf die Karwoche vorbereiten, sind wir eingeladen, mit den Pilgern von Jerusalem zu rufen: „Hosanna! Gesegnet sei, der kommt im Namen des Herrn!“ Doch unser Ruf soll nicht von oberflächlicher Begeisterung, sondern von tiefer Erkenntnis geprägt sein – der Erkenntnis, dass der König, den wir begrüßen, ein König der Demut und der Liebe ist, dessen Reich nicht von dieser Welt ist, aber diese Welt transformiert durch die Kraft seiner Hingabe.

Mögen wir in dieser Woche lernen, diesen wahren König zu erkennen und zu empfangen – nicht nur mit Worten und Gesten, sondern mit unseren Herzen und unserem Leben. Mögen wir ihm den Weg bereiten, nicht nur in den Straßen unserer Städte, sondern in den verborgenen Kammern unseres Inneren, damit er dort einziehen und herrschen kann als der, der er wirklich ist: der König der Demut und der Liebe, der König des Friedens und der Gerechtigkeit, der König, dessen Herrschaft kein Ende haben wird.

Pfarrer Dr. Diradur Sardaryan