Die Heiligen Übersetzer Armeniens

Hüter der Sprache, Bewahrer einer Nation

Inmitten der imposanten Gebirgskulisse Armeniens, einem Land, das seit Jahrhunderten an der Schnittstelle zwischen mächtigen Reichen liegt, aber auch in der armenischen Diaspora, wird jedes Jahr ein besonderes Fest gefeiert: das Fest „Srbots Targmanchats“ (arm. der Heiligen Übersetzer), oder ausführlicher: Gedenken an die Hl. Übersetzer, Lehrer der Kirche, die Heiligen Mesrop, Yeghische, Movses Kertgh, David der Nachtphilosoph, Gregor von Narek und Nerses von Kla. Nationaler und kirchlicher Feiertag zur Erinnerung an die Erschaffung der armenischen Schrift und die Übersetzung des Heiligen Buches (der Bibel).

Dieses Fest ist nicht nur eine religiöse Feier, sondern ein Schlüssel zu Armeniens reicher kultureller Identität. Es erinnert an eine historische Leistung, die das kleine Land nicht nur geistig und kulturell befreit hat, sondern es auch über Jahrhunderte hinweg stabilisierte. Doch heute, in einer Zeit der Globalisierung und digitalen Vernetzung, gewinnt dieses Fest an neuer Bedeutung.

Die erste christliche Staat der Welt Armenien war oft den Kräften größerer Mächte ausgeliefert. Doch im Jahr 405 nach Christus geschah etwas, das die Geschichte des Landes für immer veränderte: Ein Mönch namens Mesrop Maschtoz erfand das armenische Alphabet. In den Jahren, die folgten, übersetzte er mit seinen Schülern die Bibel und andere geistliche, philosophische und wissenschaftliche Werke in die neue Schriftsprache. Dieser Akt, der auf den ersten Blick rein akademisch erscheinen mag, hatte weitreichende kulturelle und geistliche Folgen, die bis heute spürbar sind. Es war die Wiedergeburt einer nationalen Identität, die auf Sprache, Glauben und Bildung gründete – drei Eckpfeiler, die Armenien seitdem durch die dunkelsten Zeiten seiner Geschichte getragen haben.

Sprache als kulturelles Bollwerk

Die Erfindung des armenischen Alphabets war mehr als nur eine technische Errungenschaft. Es war ein Befreiungsschlag, der das Volk von der geistigen Vorherrschaft fremder Kulturen befreite. Vor der Erfindung des Alphabets waren die Armenier gezwungen, griechische oder syrische Texte zu verwenden, um ihre religiösen und weltlichen Anliegen zu artikulieren. Doch mit der Übersetzung der Bibel und anderer theologischer Werke konnte Armenien eine eigene geistige Tradition entwickeln. In der theologischen Literatur wird dies oft als „die Verkörperung des Wortes“ beschrieben – die Heilige Schrift wurde für das armenische Volk zu einem Teil ihrer kulturellen DNA.

Dieser Moment war nicht nur für die Kirche von Bedeutung, sondern auch für die Nation als Ganzes. Denn Sprache ist das Herz jeder Kultur. Sie bestimmt, wie ein Volk seine Welt wahrnimmt, wie es denkt und wie es seine Geschichte erzählt. Armenien, oft politisch und geografisch isoliert, fand in seiner Sprache einen Anker. Über Jahrhunderte hinweg, trotz Eroberungen und Fremdherrschaft, war die armenische Sprache ein Bollwerk, das die kulturelle Identität schützte. Die Arbeit der Heiligen Übersetzer ermöglichte es Armenien, in den Wirren der Geschichte eine eigene Stimme zu bewahren – eine Stimme, die heute lebendiger denn je ist.

Die Heiligen Übersetzer als Visionäre

Wenn wir an die Heiligen Übersetzer denken – an Mesrop Maschtoz, Moses von Choren, Eghische und ihre Zeitgenossen – sollten wir uns daran erinnern, dass sie nicht nur Übersetzer im klassischen Sinne waren. Sie waren Visionäre, die erkannten, dass die kulturelle und geistliche Unabhängigkeit eines Volkes von seiner Fähigkeit abhängt, die Heilige Schrift und das Wissen in der eigenen Sprache zu vermitteln. Ihre Arbeit legte den Grundstein für eine intellektuelle Renaissance, die Armenien durch die Jahrhunderte trug.

Die Heiligen Übersetzer verkörperten eine tiefe Einsicht: Sprache ist nicht nur ein Werkzeug der Kommunikation, sondern ein Mittel, durch das die göttliche Wahrheit verstanden und verinnerlicht wird. In einer Welt, in der Armenien oft von äußeren Mächten bedroht war, erkannten sie die Notwendigkeit, dass das Wort Gottes und das Wissen in der Muttersprache verfügbar sein mussten. Dies war ein revolutionärer Gedanke – und ein mutiger Schritt in einer Zeit, in der fremde Mächte die geistliche und politische Kontrolle ausübten.

Die Relevanz des Festes heute

Heute, im 21. Jahrhundert, könnte man meinen, dass die Errungenschaften der Heiligen Übersetzer ein Relikt aus einer vergangenen Zeit sind. Doch in Wahrheit sind sie relevanter denn je. In einer globalisierten Welt, in der kulturelle Identitäten oft unter Druck geraten und die digitale Vernetzung neue Herausforderungen mit sich bringt, erinnert uns das Fest der Heiligen Übersetzer daran, wie wichtig es ist, unsere Wurzeln zu bewahren.

Die Armenische Apostolische Kirche und die armenische Kultur stehen heute vor neuen Herausforderungen: Wie können sie ihre reiche Tradition in einer Welt bewahren, die sich immer schneller verändert? Die Antwort liegt vielleicht im Erbe der Heiligen Übersetzer selbst. Sie zeigten, dass kulturelle Erneuerung und Bildung der Schlüssel zum Überleben einer Nation sind. Die Armenier haben die Möglichkeit, ihre Geschichte und Kultur in die moderne Welt zu tragen – durch digitale Medien, durch den kulturellen Austausch und durch die Pflege ihrer Sprache in der Diaspora. Diesem Ziel dienen u.a. auch die Armenischen Kulturtage in Stuttgart, die dieses Jahr vom 17. bis 27. Oktober stattfinden.

Besonders für die armenische Diaspora, die heute weltweit verstreut ist, gewinnt das Erbe der Heiligen Übersetzer eine neue Dimension. Für die Millionen von Armeniern, die außerhalb ihres Heimatlandes leben, ist die armenische Sprache nicht nur ein Mittel der Kommunikation, sondern ein Symbol ihrer Identität. In Baden-Württemberg legen wir besonderen Wert darauf. Seit Ihrer Gründung 2009 hat die Samstagsschule „Surb Mesrop Mashtoz unserer Gemeinde“ nicht aufgehört, die Sprache und Kultur Armeniens an die junge Generation weiterzugeben. Heute wurde sie neu konzipiert und lädt erneut Kinder und Jugendliche, sowie deren Eltern zum Mitmachen ein (Tag der offenen Tür am 19.10.2024 in Wangen).

Das Fest erinnert uns daran, dass der Erhalt dieser Sprache nicht nur eine kulturelle Pflicht ist, sondern eine spirituelle Aufgabe – eine Aufgabe, die uns mit unseren Vorfahren verbindet und uns hilft, unsere Identität in einer sich verändernden Welt zu bewahren.

Ein Vermächtnis für die Zukunft

Die Heiligen Übersetzer haben uns ein Erbe hinterlassen, das weit über die bloße Schaffung eines Alphabets hinausgeht. Sie gaben dem armenischen Volk die Fähigkeit, seine eigene Geschichte zu schreiben, seinen Glauben in der Muttersprache zu erleben und seine kulturelle Identität zu bewahren. Heute, in einer Welt der technologischen und kulturellen Umwälzungen, ist dieses Erbe von unschätzbarem Wert.

Es liegt nun an uns, dieses Vermächtnis weiterzuführen. Die Arbeit der Heiligen Übersetzer ist noch nicht abgeschlossen – sie wird in jedem Buch, in jedem Kunstwerk, in jeder Predigt, die in der armenischen Sprache verfasst wird, weitergeführt. Ihre Vision von einer Nation, die sich durch Sprache und Glauben definiert, ist heute genauso relevant wie vor über 1.600 Jahren.

Das Fest der Heiligen Übersetzer ist daher nicht nur ein Rückblick auf die Vergangenheit, sondern eine Einladung, über die Zukunft nachzudenken. Es fordert uns auf, die Sprache, die uns unsere Vorfahren hinterlassen haben, zu pflegen und weiterzugeben – nicht nur als Mittel der Kommunikation, sondern als Ausdruck unserer tiefsten kulturellen und geistigen Überzeugungen. In einer Welt, die sich ständig verändert, bleibt die Arbeit der Heiligen Übersetzer ein Leuchtfeuer, das uns den Weg in die Zukunft weist.

Pfr. Dr. Diradur Srdaryan
Gemeindepfarrer der Armenischen Gemeinde
Baden-Württemberg